Arturo Schwarz
Auf dem Wege zu einem transzendentalen Ausdruck der Ganzheit des Seins

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Woldemar Winkler, 1902 im Zeichen der Zwillinge geboren, ist von der Welt der Kunst lange Zeit zu Unrecht nicht beachtet worden. Dabei hat dieser – um nur drei seiner Landsleute zu nennen – ein Jahrzehnt nach Max Ernst zur Welt gekommene große Zeitgenosse Hans Bellmers und Richard Oelzes ein antizipatorisches und höchst subversives Werk geschaffen, das einer der drängendsten Bestrebungen Ausdruck verleiht, die wir kennen: Im Abendland ist es die alchemistische Suche nach dem homo totus, dem ganzen Menschen, in China das Bestreben, sich zur Höhe des Chen-jen, des transzendenten Menschen, zu erheben, überall jedoch begreift man, daß die longissima via, die zu diesem überaus erstrebenswerten höheren Zustand führt, mit dem Weg identisch ist, den derjenige geht, für den die Suche nach Erkenntnis nicht von der Forderung zu trennen ist, das menschliche Sein und mit diesem auch die Welt zu verändern.
Es ist eine Forderung, die André Breton bereits im ersten Manifest des Surrealismus ein für allemal erhoben hat, indem er feststellte, das oberste Ziel seiner Gruppe sei kein anderes als der »schwindelerregende Abstieg in uns selbst«, um durch den Gebrauch aller Formen des psychischen Automatismus den »wirklichen Ablauf des Denkens« zu enthüllen. Die Erforschung des Unbewußten als Quelle des Imaginären und des magisch-mythischen Denkens erhält so Vorrang vor allem anderen, womit die Rangordnung der Erkenntniswerte auf den Kopf gestellt wird. Später legt Breton dar, dieses Bedürfnis nach Selbsterkenntnis sei nicht platonisch und habe nichts mit Narzißmus zu tun. Auch für ihn ist die Erkenntnis seiner selbst die erste Voraussetzung für die Veränderung des menschlichen Seins, also das unumgängliche Vorspiel zur Umgestaltung des Lebens.
Wenn es ein Unterscheidungsmerkmal gibt, das Woldemar Winklers Werk charakterisiert, dann ist es die leidenschaftliche, im Zeichen der Poesie unternommene Suche nach den vielfältigen Aspekten, welche die in ständiger Entwicklung begriffene Wirklichkeit hervorbringt. Es ist ein ausgesprochen transzendentales Suchen – im kantischen Sinne dieses Wortes – geht es Winkler doch darum, uns mittels der Sprache der Malerei die unerschöpfliche Fülle inneren Erlebens zu erschließen.
Was bereits in seinen ersten Bildern von 1922 zutage tritt, ist eine Welt, die für ihn nicht mehr geheimnisvoll ist: ein Universum, in dem das Traumhafte, das Imaginäre und das Erotische unsere Wahrnehmung des Wirklichen erschüttern. Der Maler-Poet Winkler ist ein Dichter, der sich in den Rang eines Demiurgen erhebt und dem es wie nur wenigen anderen gelingt, das Gebot zu erfüllen, das in der Sanskrit-Literatur erhoben wird, für die der Dichter »die Gestalt des Universums verändert, neues Licht auf die sichtbare Natur wirft und durch sein Werk eine neue Welt der Liebe erstehen läßt.« (Agni Purana, 334; 10).
Die wuchernde Fülle menschlicher Gestalten, das Erblühen zahlloser Formen, das erleuchtende Licht eines neuen Mondspektrums – lauter Fluchtstäbe, die dieser Erkunder des Unbekannten setzt, um dem Geheimnis unseres Menschseins näherzukommen. Danke, Woldemar Winkler.
Arezzo, 12.– 13. Juni 1992
Schriftsteller, Galerist, Ausstellungsmacher, Kunstsammler…, Mailand