Adolf Smitmans
Die Gütersloher Zeit
on Woldemar Winklers Gütersloher Zeit zu sprechen..., konfrontiert schon biographisch mit Außergewöhnlichem. 1947 aus der Gefangenschaft nach Dresden entlassen, schlägt Winkler die angebotene Professur aus, vielleicht um des Zustands der Stadt willen, sicher weil er das Aufkommen neuer totalitärer Kräfte erkannte. Er geht nach Nordwestdeutschland und heiratet 1949 in Gütersloh seine Frau Margret. Die Anfänge im Westen waren schwierig. Es gab Aufträge, die Winkler auch heute noch wichtig sind: für Fenster, Teppich und Wand. Aber die Translokation des alten Hauses nach Niehorst symbolisiert doch auch Distanz, besagt vor allem Suche nach dem Eigenen. Erst 1960 gibt es eine erste Einzelausstellung – mit Dix – in Dortmund, erst 1972 (70jährig!) die erste Museumsausstellung in Bielefeld. Irgendwann dazwischen wird Winklers Werk in der Szene sichtbar: durch die Galerie Brusberg, durch die Ausstellungen des westdeutschen und deutschen Künstlerbundes, durch die französische Rezeption.
Was brachte er mit, und wie bestand das Werk in den Tendenzen der Zeit? Natürlich brachte er Dresden mit. Ich sehe die Zusammenhänge eng: die Beweglichkeit seiner Figuren, ihre Richtungsvielfalt, das Überschreiten der Gattungsgrenzen, viel Spielerisches. Eros ist der beinahe allgegenwärtige Gott. Dieter Hoffmann hat für die Dresdner Szene von einem Fortwirken des Rokoko im 20. Jahrhundert gesprochen, was fremd klingt und doch manches trifft und wohl auch Winkler.

Im Westen dann gibt es Beziehungen zur Kunst der Zeit, so zum Abstrakten Expressionismus und Tachismus. Es gibt in den 50ern im Werk Winklers abstrakte Farbbildungen, gänzlich sicher im Farbinstinkt, lockerer freilich, sehr viel leiser und zarter als das meiste der Zeit. Man hat von einem »lyrischen Informel« gesprochen. Es gibt auch Berührungen zur Pop-Art, wenngleich da die Unterschiede überwiegen. Nach Form und Herstellungsprinzip ist Winkler die industrielle Welt, die die Pop-art hervorbrachte, eigentlich ganz fern. Dennoch wird das triviale Fundstück ein wichtiges Ausgangsmaterial von Kunst, auch die Reihung der Motive. Nur daß Winklers Funde vor allem solche der Natur sind: Hölzer und Steine – Papiere und Eisen erst, wenn sie funktionslos geworden sind. Und natürlich gehören solche Einfügungen ins Bild bereits zu den allgemeinen Errungenschaften der Moderne.
Berührungen mit der Kunst der Zeitgenossen, aber die Unterschiede sind größer: weder die Dominanz der Außenwelt noch die Dominanz der Mittel, sondern die Dominanz des Inneren – dieses aber nicht gut abendländisch als Geistseele gegenüber einer materiellen Welt, sondern als Lebenstrieb/Lebenskeim, durch den wir auf schwer begreifliche Weise an einem allgemeinen Leben teilhaben und der überall da, wo er gleichsam die Haut der Materialität berührt, eine so gewaltige Gestaltungskraft besitzt.
Es ist freilich Lebenstrieb/Lebenskeim nicht nur das Thema. Hier berühre ich eine der schwierigsten Streitfragen im Hinblick auf Kunst. Irgendwie fällt sie in unserer Produktionsgesellschaft doch unter die Kategorie »Herstellung von Sachen«, von Bildern eben. Wir sind in unserem Haus in Albstadt jetzt zwei Monate mit den Arbeiten Max Beckmanns umgegangen, und mir wurde wieder ganz deutlich, wie sehr Beckmanns Vorsatz, das Unsichtbare im Sichtbaren erscheinen zu lassen, nicht literarisch gemeint ist, als Illustration persönlicher Mythologie etwa, sondern wirklich. Er hat tatsächlich geglaubt, daß durch seine Bilder das Unsichtbare in unsere Welt hineindrängt, mit uns kommuniziert. Das Erscheinen des Unsichtbaren im Sichtbaren aber verändert die Welt. Bei anderer Weltanschauung und deshalb auch Formgebung gehört die Kunst Woldemar Winklers schon immer zu denjenigen, die mich ähnlich grundsätzlich auf die Frage nach Wirklichkeit gestoßen haben. Er stellt den Lebenstrieb nicht nur dar – gewiß gibt es Motive dafür in Fülle –, aber es ist die ganze Art der Entstehung und Organisation seiner Bilder dessen Ausdruck. Daher kommt auch die eigentümliche Nähe der Vertrautheit, die sich einstellt, die einen beinahe in die Bilder und Plastiken hineinzieht. Sie funktionieren einfach nicht aus jener Entfernung, in der wir – freilich vielleicht auch nur vermeintlich – zu den Dingen stehen. Bei aller Überraschung durch Einzelheiten sind Winklers Bilder nicht fremd, weil in ihnen der Fluß des Lebens, der in uns selbst fließt, gleichsam einströmt in die organisierte Welt.

Mit überwiegendem Recht ordnet man diese Gestaltungsweise dem Surrealismus zu, der das Unbewußte als Form in unsere Welt vermittelt. Sie geschieht – jedenfalls auch – mittels Trance, die dem Unbekannten und Verdrängten zur Formwerdung verhilft. Dabei erscheint eine Kraft und Fruchtbarkeit des Lebenskeims, die unser gewöhnlich auf die Dinge und Einzelereignisse, auf das Handel- und Mitteilbare gerichtetes Leben zu erschüttern vermag und die aus der Zerstreuung an die einzelnen Dinge zu uns selbst sammelt. Ich sage das nicht leichtsinnig. Ich meine vielmehr damit auch Gründe für die Rezeptionsschwierigkeiten zu berühren, die Woldemar Winklers Werk in einer gewissen vom Markt bestimmten Kunstszene in den vergangenen Jahrzehnten auch gehabt hat. Das war und ist kein Marketing-Problem, (Tatsächlich glaube ich überhaupt nicht, daß Marketing – das neue Zauberwort für die Kultur – die Wirkung von Kunst zu steigern vermag; im einen oder anderen Fall mag Marketing hilfreich sein, Dinge vorhanden zu machen. Aber das liegt ganz vor der Wahrnehmung von Kunst.)
Wäre Winkler ein willkürlicher Phantast oder ein listenreicher Dekorateur, könnte sich jene eigentümliche Nähe wie beim Wiedererkennen nicht einstellen, die den Betrachter berührt. Sie wahrzunehmen erfordert allerdings, Grenzen und Mauern niederzulegen, mit deren Hilfe wir gewöhnlich unseren Alltag funktionabel machen. Da steckt auch Angst dahinter, weil wir Herkunft und Wesen des Lebens ja nicht wirklich verstehen. So überziehen wir mit Grenzen und Mauern die Welt, Woldemar Winkler scheint mir erstaunlich angstfrei zu sein. So überschreitet er die Rahmen, erweitert die Bildfläche zur Collage in den Raum. Er läßt das Strömen des Lebens zu und seine ständigen Wandlungen. Und er zeigt auf eine schwer auf den Begriff zu bringende Weise, daß wir nicht am Ende sind. Dabei übersieht er den Tod nicht, obgleich er ihn als Motiv beinahe nie zeigt. Ich denke, er vermeidet ihn zum einen aus Sachlichkeit, weil wir das Ende für uns selbst ja tatsächlich nicht kennen – es gibt bei Winkler keine anderswoher geholten Versatzstücke. Der Hauptgrund, warum das Ende als Motiv nicht begegnet, ist aber, daß das Prinzip der Verwandlung, das in Winklers Werk allgegenwärtige, eben nicht nur Spiel ist, sondern den Tod einschließt.
Und wie nebenbei sagt Winkler ungeheuer revolutionäre Dinge, indem es Herrscher und Helden in dieser Kunst nicht gibt, es sei denn verspottete. Übrigens auch nicht aus dem Leben ausgegrenzter Heilige, statt dessen: daß auch die Dinge, die vermeintlich toten, Form sind, also von geistiger Qualität. Überhaupt mißachtet er die Unterscheidung von Materie und Geist, die so lange unsere Zivilisation geprägt hat, und ist damit vielleicht der begleitende Prophet eines neuen Weltverständnisses. Man kann das schwer ausdrücken, weil ja unsere Wörter vom Weltbild der Unterscheidung und Abgrenzung geprägt sind. Vielleicht wird das Gemeinte am evidentesten vor seinen Stelen und Collagen, wo die toten Fundstücke – schon abgelegt – sich zu einem neuen Leben fügen – zu einer Auferstehung gleichsam. Aber es ist auch in den Wirbeln seiner Zeichnungen und in den unendlichen Umarmungen seiner Figuren.
Meine Damen und Herren, das ist sicher unvollkommen gesagt, aber ich meine doch, das sei es, dieses Thema »Leben«, was die unerhörte Fruchtbarkeit dieses Werkes begründet und seine Notwendigkeit für uns. Vielleicht fürchten Sie, ich wollte Ihnen Winklers Kunst als eine Art Weltanschauungslehre einreden. Das aber wäre schon deshalb ein Mißverständnis, weil ich Sie auf gar keine Weise von Winklers Formfindungen wegführen möchte. Die berührende Wahrnehmung eines Steins, der ein Tänzer wird, die Faszination durch den eigentümlichen Überfluß in einem Bild – als Parallele weiß ich nur die überreiche Fruchtbarkeit der Natur zu nennen –, das Erstaunen über die scheinbar so mühelose Assimilation materiellen Schrotts in die bildbestimmte Farbe – das ist es.

Noch einmal: wichtig, daß nicht etwas hergestellt, sondern sichtbar gemacht wird, letztlich jenseits unserer Rationalität. Wir können zwar Farbe beschreiben, also wie sie physikalisch funktioniert, aber wir wissen danach tatsächlich nicht mehr darüber, was sie ist und warum es sie gibt. Was sie aufnehmen kann, wie sie sich sprödem Lattenholz verbindet, mit dem sie doch scheinbar so gar nichts gemein hat, das macht staunen und zeigt, wie ahnungslos wir gewöhnlich vor der Wirklichkeit sind. Ich denke bei diesen Bemerkungen an die letzten Bilder aus Spanien: in das Nichts gesetzte Kühnheiten, Zusammenhang des Fremden stiftende Zauberstücke.
Zusammenhänge stiftet Winkler allenthalben. Ich würde gern von einer Kunst der Liebe sprechen, wenn man so ohne Moral und Sentimentalität reden könnte - mit beidem hat Winkler nichts im Sinn –, Liebe gleichsam ontologisch als Grundgestalt des Seins. Ein Bildtitel Winklers: »Wenn der Himmel die Erde küßt, wandeln sich die Werte«. Das entspricht uralter orientalischer Mythologie wie auch jener des antiken Griechentums, deren in Liebesdinge verstrickte Göttinnen und Götter westlicher Rationalismus freilich verspottet – wie er denn auch gänzlich verdrängt hat, daß der Christus des Neuen Testaments sich selbst »der Bräutigam« nennt. Vielleicht gehen wir wegen dieser Vergeßlichkeit so schlecht mit der Welt um. Ich bestehe tatsächlich darauf, daß diese zarte, scheinbar so weltfremde Kunst unsere Lebensfragen zentral berührt, weil der Wandel der Werte zugunsten des Lebens ihr Thema ist. Ich denke überhaupt, daß es Kunst nicht gibt, wenn sie nicht mit etwas Überindividuellem und Überdinglichem im Bunde ist – anders ist sie eben immer »Reproduktion« von schon Vorhandenem, vielleicht mit je persönlicher Sentimentalität.
Kunstgeschichtlich kann man Winkler einen Surrealisten nennen, oder auch einen Romantiker. Er selbst hat sich nicht an schon Vorhandenem orientiert. Es fehlt solchen Zuordnungen überhaupt die Dimension der Zukunft. Anders bei Winkler: »Kunst wird in Zukunft eine hervorragende und wachsende Bedeutung haben und in unbewußte Bereiche der Gefühle führen. Die Kunst wird zum täglichen Brot gehören und kaum noch als Luxus Bevorrechtigter zu betrachten sein... Der Hunger nach dem Imaginären und nicht Meßbaren, dem Unergründlichen und dem Geheimnis wird größer und damit die Kunst zu einem echten Bedürfnis.« Welche Vision eines alten Mannes, da wir Jüngere oft so mutlos sind. Vielleicht aber erfüllt sie sich ja. Und vielleicht gehört gerade diese Stunde schon zu dieser Erfüllung, daß eine Kunst, die so leise ist, so zärtlich, so im Wortsinn zauberhaft, in all unserem Lärmen tatsächlich gehört werden kann.
Ich möchte zum Schluß aus einem Brief zitieren dürfen, den Sie, sehr geehrter Herr Winkler, mir 1987 geschrieben haben: »Meine Frau hat weidlich Schweiß und Nervensaft opfern müssen bei der Bearbeitung meiner vielen Lügenphantasien, die die Lücken der Wahrheit füllen möchten... Es wird sich für Sie noch einiges ermüdende Strampeln ergeben, so neben meiner Arbeit her, die man meint, im Fliegen geschaffen zu haben. Wenn es uns arn Ende aber doch gelingen sollte, ein Zipfelchen des über unser Dasein gebreiteten Schleiers gelüftet zu haben, so dürfen wir schließlich glücklich sein.« Da haben Sie Woldemar Winkler ganz: in seiner Bescheidenheit und Dankbarkeit, und doch zugleich welch ein Selbstverständnis der künstlerischen Arbeit: »die Lücken der Wahrheit füllen«, den über unser Dasein gebreiteten Schleier lüften. Es ist bei allem Spiel ein absoluter Ernst in diesem Werk und eine große Hoffnung.
1994 anläßlich der Gründung der Woldemar-Winkler-Stiftung