Heribert Becker
Zur Stellung von Woldemar Winklers Werk
Aschenputtels Goldschuh,
1920
Häufig hört man diejenigen, die Woldemar Winklers Werk kennen und lieben, dessen verhältnismäßig geringen Bekanntheitsgrad beklagen. Weshalb nur? Wie oft hat die Publizität eines Künstlers, auch in diesem Jahrhundert, in einem schroffen Mißverhältnis zur künstlerischen Qualität seiner Arbeit gestanden – zumindest zu seinen Lebzeiten, denn bisweilen geschieht es ja, daß die Nachwelt die Nichtbeachtung seitens der Zeitgenossen des Künstlers kompensiert. Der Paradefall ist derjenige Vincent van Goghs. Im Falle Winklers wie in demjenigen aller anderen heute lebenden authentischen Schöpferpersönlichkeiten, die dem breiten Publikum wenig bekannt sind, könnte man freilich fragen, ob nicht gerade ihre Ruhmlosigkeit – ihr Außenseitertum, ihre Individualität, ihre Randständigkeit – im Grunde einen Ruhmestitel darstellt. Denn das, was man die offizielle Kunst unserer Zeit nennen möchte – die erfolgreiche, hochbezahlte, im Bewußtsein des Feuilletonlesers präsente –, ist ja häufig oder gar überwiegend nur Pseudokunst, Kunstersatz, geistige Billigware. Es ist doch schwerlich zu leugnen, daß wir es, zumal was die bildende Kunst angeht, derzeit mehr denn je mit einer akuten Krise der Kriterien zu tun haben, die so weit geht, daß – Gipfel des Konfusionismus – bereits ernsthaft versucht wird, dem Publikum wieder die Nazi-»Kunst«, das heißt die pure Illustration einer kriminellen Ideologie, kurzum die schiere Negation von Kunst, als relevantes geistiges Erzeugnis aufs Auge zu drücken. So etwas geschieht natürlich nicht zufällig, sondern hat durchaus Methode: Immer wieder versuchen ja die Machteliten der Gesellschaft, sich die Künstler – namentlich die bildende, die dem Markt so nahe ist – gefügig und ihren eindeutigen Zwecken dienstbar zu machen oder sie, falls das nicht glückt, auf irgendeine Weise, sei es durch Totschweigen, durch Diskriminierung (»Ratten und Schmeißfliegen«) oder notfalls durch Verbot, von der öffentlichen Bühne fernzuhalten. Die erstgenannte Prozedur ist heute in den Ländern der »ersten« Welt wieder einmal weitgehend gelungen – ohne Aufheben, gewaltfrei, sozusagen hygienisch. Begünstigt durch bestimmte Errungenschaften der Wohlstands-, Freizeit- und Kommunikationsgesellschaft ist es »den Hütern der Ordnung, allesamt großen Mitkämpfern für die Verdummung« (André Breton) geglückt, jene ihnen genehme Kunst von der allgemeinen künstlerischen Aktivität abzuheben und sie im öffentlichen Bewußtsein, das an Manipulationen so sattsam gewöhnt ist, daß es sie längst nicht mehr bemerkt, publizistisch als die Gegenwartskunst zu etablieren. Allein die Tatsache, daß die gesellschaftlichen Führungsmächte dieser Kunst so freundlich gegenüberstehen, sollte zu denken geben. Sie legt den Schluß nahe, daß es sich hier tendenziell nur um Surrogate handeln kann, um das Gegenteil authentischer Kunst, die immer Kritik, Nonkonformität, Widerstand, Überschreitung und Revolte ist. Aber wer weiß, im Gedränge der Basare, überhaupt noch um dieses zentrale Kriterium? Die internationalen Marktstrategen haben längst andere Maßstäbe gesetzt. Ihres Tuns als Hüter der Ordnung ohne Zweifel bewußt, haben sie in harmonischem Zusammenspiel mit ihren neofeudalen Abnehmern die bildende Kunst auf die Ebene der Unterhaltungsindustrie, des »show biz«, des »Spektakels« heruntergezogen. Wie in der Filmindustrie oder im Sport, diesen klassischen Verdummungsmaschinerien, gibt es nun auch in der Kunst »Superstars«, ja sogar »Megastars«, wie uns ein gewisser Herr Honnef, ganz großer Zampano des Kunstzirkus, in unfreiwillig entlarvender Ausdrucksweise wissen läßt. (Da der Kommerz hier als Alleinherrscher regiert, ist es nur logisch, daß auch und vor allem unter den Kunstkrämern selbst eine Hierarchie von Super- und Megastars existiert.) Und nach Art von Kintopp und Sport wechseln die Stars fast so häufig wie die Moden der Haute Couture: Jede Saison wird ein anderer »Trend« auf den Thron gehievt, wird eine andere Eintagsfliege gekürt – »Fliegenberühmtheiten«, wie Hans Arp sie schon 1949 genannt hat:
Der Künstler dieser Epoche opfert die göttliche Einsamkeit
einer Fliegenberühmheit.
Er hält sich ein ganzes Gefolge von Katzbucklern, Taschenspielern und Werbeagenten
das Loblieder auf ihn singt (…).
Dresden, 1927 (zerstört)
So hat man ein mehr oder minder weltweites Imperium der geistigen Dürftigkeit errichtet, in dem die pure Quantität herrscht und dessen Protagonisten, allen voran der groteske Clown mit der Strohperücke, um so lieber in Gold aufgewogen werden, desto weiter sie sich vom Wesenskern allen künstlerischen Tuns entfernen, der in der Subversion aller etablierten Paradigmen besteht. Und wir erleben, nach der Epoche des Künstler-Lakaien, wie ihn der real nicht existierende Sozialismus hervorgebracht hat, im allzu real existierenden Spätkapitalismus die Periode des Huren-Künstlers, dessen Prototyp vor fünfzig Jahren Señor Avida Dollars (ein Anagramm Bretons, das dieser als Spottnamen für Dalí benutzte, d. Red.) unseligen Angedenkens kreiert hat. Ein ganzes Heer ehrbarer Zuhälter – denn sie sind im bürgerlichen Beruf Museumsdirektoren, Kulturamtsleiter, Feuilletonchefs, Galeristen und dergleichen – sorgt dafür, daß es in den schicken postmodernen Kontakthöfen, wo die Ware feilgeboten wird, nicht an solventer Kundschaft mangelt, mag sie nun in Schokolade oder in Mikrochips machen – an einer Kundschaft, der nach dem fünfzigsten oder hundertsten Kunststoß gegebenenfalls irgendein staatlicher Faschingsorden für besondere Verdienste auf dem Gebiet der systematisch-systemerhaltenden Massenverdummung umgehängt wird. Horizontaler kann ein Gewerbe nicht daniederliegen.
Reden wir von authentischer Kunst, sprechen wir von Woldemar Winkler. Mit ihm lassen wir den lärmenden Rummelplatz der aufgeblähten Dummheiten und Belanglosigkeiten, der sich Gegenwartskunst nennt, hinter uns und betreten den sehr stillen Bezirk der Poesie, so wie vorzugsweise die Romantik und – in diesem Jahrhundert ... der Surrealismus diesen Begriff verstanden haben. Romantiker wie Surrealisten – und zwischen diesen beiden großen Bewegungen zahlreiche andere Dichter und Künstler – gingen bei ihrem Verständnis von Poesie von der grundlegenden Einsicht aus, daß die sogenannte objektive Realität, in der wir leben, noch keineswegs die ganze Wirklichkeit ist. Die Sinne, mit denen wir die Welt und uns selbst wahrnehmen, und das Bewußtsein, das auf der Grundlage dieser Wahrnehmungen operiert, sind nach ihrer Ansicht sehr begrenzt taugliche Instrumente, die uns nur Aspekte, nur Teilbezirke des Wirklichen zugänglich machen, mag das Bewußtsein im Zeitalter der Aufklärung und des positivistisch-pragmatischen Rationalismus noch so sehr zu der Behauptung neigen, das von ihm Erfaßte sei bereits die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit. Über die Weltkonstruktion der Ratio hinausgehend existiert im mythisch-magischen Denken der Romantiker und der Surrealisten eine umfassendere Wirklichkeit, die die einen als Absolutes, die anderen als Surrealität bezeichnet haben. Dieses Absolute steht aber nicht mehr, wie im voraufklärerischen metaphysischen Denken des Christentums, als persönlicher Gott, der Schöpfer und Mittelpunkt der Welt ist, dem Menschen fremd und letzten Endes unerreichbar gegenüber, sondern es befindet sich in ihm selbst. »Wir träumen von Reisen durch das Weltall«, schrieb Novalis: »ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.« Und André Breton verweist im zweiten surrealistischen Manifest darauf, »daß der Surrealismus einfach danach strebt, unser gesamtes psychisches Vermögen zurückzugewinnen auf einem Wege, der nichts anderes ist als ein schwindelerregender Abstieg in uns selbst«. Romantiker wie Surrealisten gehen also davon aus, daß der Mensch etwas Verlorenes zurückzuerobern hat, daß er in einem Zustand des Mangels lebt. Dieser Mangel ist ein Mangel an Wirklichem, ein Mangel an Sein.
Kupferstich von Eduard Eichens
Eine wesentliche Konsequenz der Denkweise, die das Absolute in den Menschen verlegt, besteht darin, daß die alten Dualismen und Antinomien – Subjekt/Objekt, Mensch/Welt, Endliches/Unendliches, Zeit/Ewigkeit usw. – mit der Überwindung des zentralen Gegensatzes Gott/Mensch ihre Gültigkeit verlieren. In der Weltsicht der Romantiker sind das Absolute und das Bedingte eine einzige, nicht länger geteilte Wirklichkeit, die in dieser Totalität konkret erfahrbar ist. Auch die Surrealisten glauben »an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensatzlichen Zustände von Traum und Realität in einer Art absoluter Wirklichkeit, wenn man so sagen kann: Surrealität«, wie Breton in seinem ersten Manifest betont. Noch expliziter heißt es im zweiten Manifest: »Alles läßt uns glauben, daß es einen bestimmten geistigen Standort gibt, von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres, Vergangenes und Zukünftiges, Mitteilbares und Nicht-Mitteilbares, Hohes und Tiefes nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden.« Man werde, fügt Breton hinzu, »in den Bemühungen des Surrealismus vergeblich einen anderen Beweggrund suchen als die Hoffnung, eben diesen Punkt zu bestimmen«. Das Absolute, die Surrealität, die Ganzheit des Wirklichen ist dem Menschen hienieden zugänglich, aber es ist verborgen und muß immer neu enthüllt werden. Zu dieser Offenbarung sind die Sinne und das Bewußtsein so wenig tauglich, wie sie für den Zugang zur Divinität des transzendentalen Gottes getaugt hätten. Um die Unendlichkeit des ganzen Wirklichen in sich zu finden, muß der Mensch nach Ansicht der Romantiker wie der Surrealisten über die Grenzen des Bewußtseins hinaustreten. Insofern Bewußtsein und Ich, wie dies im rationalen Denken geschieht, gleichgesetzt werden, gilt es, das Ich selbst zu entgrenzen, ja aufzulösen: nur so vermag der Mensch mit dem Weltganzen zu verschmelzen. »Entgrenzung« ist einer der Schlüsselbegriffe der deutschen Frühromantik, und ihm korrespondiert das surrealistische Postulat, »das Weite (zu) suchen«. Dieser Akt der Ekstasis, in dem sich das Sein in seiner Ganzheit enthüllt, ist nach Auffassung der Romantiker der poetische Akt schlechthin. Der »große Zweck der Zwecke« der Poesie, heißt es bei Novalis, sei die »Erhebung des Menschen über sich selbst«. Nach Ansicht der Surrealisten ist nicht nur der Künstler, sondern grundsätzlich jeder zu dieser Erfahrung berufen. Gleichwohl ist die Poesie für beide Enthüllung der Totalität des Wirklichen; mehr noch, sie ist diese Totalität. »Die Poesie ist das echt Reelle (i.e. Reale)«, schreibt Novalis. »Dies ist der Kern meiner Philosophie. Je poetischer, je wahrer.« Für Friedrich Schlegel ist »in keinem Endlichen (...) das Unendliche so gegenwärtig wie in der Poesie«: »Die Poesie ist das Endliche, in dem das Unendliche Ereignis wird.« Wenn das Höchste, das der Mensch zu erreichen vermag, darin besteht, mit allem eins und auf diese Weise ganz zu werden, so ist die Poesie als der Vollzug dieser Ganzwerdung die höchste menschliche Tätigkeit, in der nicht nur alle Künste – die bildende Kunst eingeschlossen – gipfeln, sondern auch Philosophie, Wissenschaft usw.. Tatsächlich hat der Dichter in den Augen der Romantiker die höchste Stellung unter den Menschen, denn er ist der Mittler zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen; mehr noch, er, der sich vermöge der Poesie über sich selbst erhebt und so die Welt gleichsam von einer höheren Warte aus erblickt, ist Seher und Prophet. Bei Novalis, Schlegel und ihren Freunden gewinnt die Poesie als Ereignis der Offenbarung des Ganzen = Heilen = Heiligen sogar den Rang einer (diesseitigen) Religion. Nicht minder ist auch für die Surrealisten die Poesie der Inbegriff eines nicht-transzendentalen Heiligen.
und Skelett, 1928
Aufgabe der Poesie ist es also, »den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben« (Friedrich Schlegel), die Grenzen des Bewußtseins und des Ich aufzubrechen. Was aber tritt an die Stelle dieser Vernunft, die dem Menschen die Ganzheit verbirgt? Das Instrument des Dichters im romantisch-surrealistischen Sinne ist die Imagination, die freieste Geistestätigkeit, zu welcher der Mensch imstande ist, »die Königin der Wissenschaften«, wie Charles Baudelaire sie genannt hat. Imaginieren ist nicht diskursives Denken nach den Gesetzen von Kausalität und Logik, sondern irrationales, analogisches Denken entsprechend einem Wirklichkeitsverständnis, demzufolge es keine Trennwände zwischen den Elementen des Wirklichen gibt, so daß alles mit allem zusammenhängt und korrespondiert. »(L)ernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen«, forderte Novalis. Vehikel dieses Denkens ist das Bild, das vom Begriff fundamental verschieden ist, da sich in ihm Dinge zusammenfügen, die dem begriffich denkenden Bewußtsein als unvereinbar erscheinen. »Je größer der (dichterische) Magus«, erklärt Novalis, »desto willkürlicher sein Verfahren, sein Spruch, sein Mittel.« »Das stärkste Bild, muß ich gestehen«, erklärt auch Breton, »ist für mich dasjenige, das von einem höchsten Grad von Willkür gekennzeichnet ist; für das man am längsten braucht, um es in die Alltagssprache zu übersetzen (...).« Aber obwohl eine solche Übersetzung im Grunde gar nicht möglich ist, spricht Breton vom »Licht des Bildes«, denn es erhellt das Wirkliche in seiner Ganzheit. Um diese Ganzheit ging es sowohl den Romantikern als auch den Surrealisten nicht nur in der Kunst. Die Poesie war für sie keine Angelegenheit einer vom übrigen Leben des Menschen abgetrennten Ästhetik. Im Gegenteil, es handelte sich darum, die gesamte im Zustand des Un-Heils, des Mangels an Ganzheit lebende Gesellschaft poetisch zu revolutionieren. Die Poesie ist weit mehr als Kunst im konventionellen Sinne, denn sie zielt darauf ab, für alle das verlorene goldene Zeitalter auf Erden zu verwirklichen: «Die Welt muß romantisiert (i. e. poetisiert) werden«, verlangte Novalis, für den der ideale Staat ein »poetischer Staat« war. »So findet man den ursprünglichen Sinn (des Daseins) wieder«, der darin besteht, in der Fülle des Wirklichen zu leben. Ganz ähnliche Züge weist die auf einer radikalen Kritik der überkommenen Zivilisation basierende gesellschaftliche Utopie des Surrealismus auf, der mit Leidenschaft verlangt, »die Poesie zu praktizieren« (Breton), das heißt in konkrete gesellschaftliche Realität umzusetzen.
Die beschriebene Kunstauffassung, die in Wirklichkeit eine Lebenskonzeption ist, hat in der christlich-abendländischen Kulturgeschichte nur selten dominiert, obgleich sie weitaus älter ist als Romantik und Surrealismus, die keine Sonderfälle, sondern lediglich herausragende Exponenten einer langen Denktradition sind, die sich bis um 1800 als eine untergründige Strömung, als nur phasenweise an der Oberfläche erscheinender unterirdischer Fluß gezeigt hat.
Woldemar Winkler, so scheint mir, steht ganz in dieser Tradition. Anders als die meisten Romantiker und Surrealisten hat er nur verhältnismäßig wenig Kunsttheoretisches zu Papier gebracht, doch das, was er publiziert hat, liegt weitgehend auf der hier angedeuteten Linie, abgesehen davon natürlich, daß sein Werk selbst den evidentesten Beweis seiner Zugehörigkeit zu der besagten Tradition liefert. »Wichtig scheint mir die Frage zu sein«, schrieb Winkler vor einigen Jahren in bezug auf seine künstlerische Arbeit, »inwieweit es möglich ist, einen unausgefahrenen Weg zu finden, der Entdeckungen verspricht und zu einem Ziel führt, wo es gelingt, eine Tür aufzustoßen und etwas offenbar werden zu lassen. Ich suche nicht nach ästhetischen Gesetzen. Es liegt mir nicht daran, Kunst oder schöne Bilder zu machen.« Es geht also auch hier ganz entschieden nicht um Kunst im herkömmlichen Sinne, das heißt um eine vom Leben abgetrennte »Schönheit«. Diese wird im Gegenteil als Funktion des Lebens verstanden. Dessen verborgene, durch die »totale Zivilisation unserer Welt« (Winkler) verschütteten Quellen gilt es, jenseits aller zum Selbstzweck entarteten formalen Innovationen, zu entdecken und zu enthüllen. Winkler spricht von »schöpferischer Ekstase«, die es ihm gestatte, »die Dinge nicht nur an der Oberfläche zu behandeln, sondern zu durchdringen, zu durchweichen, zu durchstechen und dabei Löcher in die Logik zu stoßen«, die eine Welt errichtet hat, welche »auf Konstruktion, Planung und vordergründige Nützlichkeit abgestellt ist« und die sich in dieser Einseitigkeit, welche den »Hunger (des Menschen) nach dem Imaginären und nicht Meßbaren, nach dem Unergründlichen und dem Geheimnis« nicht zu stillen vermag, »ständig bedrohlicher formiert«. Auch Winkler geht es angesichts dieser Gefahr um Entgrenzung und darum, geistig »das Weite (zu) suchen«, um »hinter den Mauern der Vernunft und der Logik« eine verloren gegangene Seinsfülle wiederzufinden, die den Menschen größer macht. Das Mittel, der Enge und Erstarrung der »vernünftig denkenden Vernunft« zu entrinnen, ist auch für ihn die Magie der Bildersprache: »Bilder, nicht Abbilder dehnen das Bewußtsein, weiten den Blick in unbekannte Räume, lassen den Geist zittern (...). Dann werden manchmal dunkle Geheimnisse hell wie der Tag und erleuchten blitzartig die Nacht.« Wenigstens für einige »glückliche Augenblicke« offenbart sich der »Glanz des Wunderbaren, der nicht erfunden«, sondern nur entdeckt werden kann: das Wirkliche in seinem innersten Kern.
Es wäre absurd, über die hier angedeuteten Parallelen hinaus eine direkte Herkunft Winklers von der Romantik postulieren zu wollen. Aber so wenig von einer manifesten Filiation die Rede sein kann, so sehr liegt doch wohl eine latente Verbindung vor. Jedenfalls sollte man sich daran erinnern, daß Dresden, die Heimatstadt des Malers, in der er etwa vom zwanzigsten bis zum vierzigsten Lebensjahr ansässig war, in der Geschichte der deutschen Romantik eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat, und man darf annehmen, daß ein starker Genius loci in der Lage ist, ein gutes Jahrhundert lang wirksam zu bleiben. Und stark ist dieser Genius zweifellos gewesen, denn die Stadt an der Elbe war phasenweise sogar einer der Mittelpunkte der romantischen Bewegung in Deutschland, namentlich 1798 und in der Zeit der französischen Fremdherrschaft. 1798 hielten sich Novalis und die Schlegels (Friedrich, Wilhelm August und Caroline), ferner Schelling, Steffens und Jean Paul in der Stadt auf. Im gleichen Jahr kam auch, angezogen vom guten Ruf der Dresdner Akademie, Caspar David Friedrich hierher, dessen künstlerische Maxime lautete: »Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.« 1801/02 vorübergehend andernorts ansässig, kehrte Friedrich 1802 nach »Elb-Florenz« zurück, wo seit dem vorangegangenen Jahr bereits Philipp Otto Runge lebte. 1802/03 trafen Runge und Friedrich, diese beiden bahnbrechenden Bildkünstler der deutschen Romantik, im Schatten des Zwingers häufig zusammen. 1802 lernten sie hier gemeinsam Ludwig Tieck kennen, der sich 1801/02 und später noch einmal von 1819 an in Dresden aufhielt. Während Runge 1804 die Elbe-Metropole wieder verließ, blieb Friedrich bis an sein Lebensende (1840). 1806 wurde er Mitglied der Dresdner Akademie (1824 außerordentlicher Professor am gleichen Institut), und in der Folgezeit stand sein Atelier in der Pirnaischen Vorstadt, aber auch Dresden insgesamt befand sich eine Weile im Brennpunkt des Kunstinteresses. Ein ganzer romantischer bzw. romantiknaher Kreis versammelte sich in der Stadt, zu dem Heinrich von Kleist, Adam Müller, Schubert und andere gehörten. In der Dresdner Gemäldegalerie gibt es, wenn ich nicht irre, noch heute den Friedrich-Saal, in dem unter anderem »Das Kreuz im Gebirge« (1808) hängt, der sogenannte »Tetschener Altar«, ein programmatisches Werk der bildenden Kunst der deutschen Romantik. 1834 wurde der Spätromantiker Ludwig Richter Professor an der Dresdner Akademie, was sicherlich für eine gewisse Kontinuität romantischen Denkens in der sächsischen Hauptstadt gesorgt hat. (Von ihm besaß Winkler übrigens einmal ein Originalwerk, das jedoch bei der Zerstörung Dresdens im Februar 1945 verloren ging.) Und schließlich ist noch ein anderer Nachzügler der Romantik zu erwähnen, der lange Jahre und sicher nicht ohne Nachwirkung in Dresden gelebt hat: der Arzt, Naturforscher und Maler Carl Gustav Carus. Er hatte 1820 in Dresden die Bekanntschaft C. D. Friedrichs gemacht und war sein Interpret, Schüler und Freund geworden. Kunsttheoretisch von Interesse sind seine 1831 erschienenen Briefe über Landschaftsmalerei, aber seine wohl wichtigste Publikation ist das Werk Psyche (1846), in dem zum ersten Mal der Begriff »Unbewußtsein« verwendet wird. Einer der Kernsatze dieses Buches, das übrigens 1931 neu herausgegeben wurde – hat Winkler es damals gelesen? –, lautet: »Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins.« Es ist bekannt, welche Rolle diese Einsicht über Eduard von Hartmann, Sigmund Freud und Ludwig Klages in der Entwicklung der modernen Psychologie und Psychoanalyse, nicht zuletzt aber auch in der neueren Kunst gespielt hat.
Genug der Fakten. Aufgrund der angeführten Tatsachen sollte zumindest die Vermutung erlaubt sein, daß Dresden in der Zeit, als Winklers künstlerischer Werdegang begann, ein Ort war, wo das Gedankengut der Romantik noch einige Präsenz besaß, mochten die Akademismen des restlichen 19. Jahrhunderts es auch weitgehend überlagert und verschüttet haben. Man weiß ja auch um die Bedeutung eines C. D. Friedrich für einen Winkler-Zeitgenossen wie Max Ernst und ahnt, welche Zusammenhänge zwischen jenem und Richard Oelze, einem anderen Altersgenossen Winklers, bestehen. (Auch Oelze hat übrigens eine Zeitlang in Dresden gelebt.) So betrachtet, scheint mir eine Filiation von der Romantik zu Winkler keineswegs ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, zumal es an vermittelnden »Zwischengliedern« nicht fehlt. So lernte Winkler in der Dresdner Kunstszene der zwanziger oder Anfang der dreißiger Jahre neben anderen Theodor Däubler (1876-1934), den Dichter des Nordlichts (1910), kennen – »(er) sah mir oft beim Zeichnen über die Schulter« –, und das war nun ohnehin ein Mann, der sehr direkt vom (früh-)romantischen Denken geprägt war. Und wie steht es um Winklers Verhältnis zum Surrealismus, der ja 1924 als organisierte Bewegung in Erscheinung zu treten begann? An der Oberfläche des künstlerischen-intellektuellen Lebens waren, als Winkler sich der Kunst zuwandte, in Deutschland andere Kräfte lebendig, die weniger unmittelbar in der romantischen Tradition standen als der Surrealismus, aber ebenfalls heftig gegen jede Art von Akademismus aufbegehrten. Dabei spielte Dresden, in den zehner, zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre neben Paris, München und Berlin eines der Zentren der neuen europäischen Kunst, eine führende Rolle. »Es ist erstaunlich und bezeichnend«, bemerkte Winkler selbst, von seiner Heimatstadt redend, »daß gerade in einer Zeit bitterster äußerer Not – nach dem Ersten Weltkrieg – so leidenschaftlich um künstlerische Probleme gerungen wurde.« Geistig und künstlerisch sei »mit Ungestüm nach verschütteten Wurzeln gegraben« worden, und die Dresdner Kunstszene sei damals »atemberaubend und knisternd« gewesen. Damit sind vor allem »Die Brücke« und die »Neue Sezession« gemeint. Aber mit der »Brücke«, die 1904/05 in Dresden entstanden war, war es bereits 1913 wieder vorbei. Gleichwohl behaupteten verschiedene Spielarten des Expressionismus noch eine Zeitlang ihre führende Position auf dem Schlachtfeld der Avantgarden. Teils parallel dazu, teils nachfolgend traten Bewegungen und Stilrichtungen wie Dadaismus, Neue Sachlichkeit, Konstruktivismus und Magischer Realismus hervor. Allen diesen Tendenzen begegnete der junge Winkler mit Neugierde und Interesse, ohne sich indes einer von ihnen vollständig anzuschließen. Vielmehr hielt er sich »bewußt so weit als möglich isoliert« und »saß zumeist still mit offenen Ohren« da, wenn in den Dresdner Künstlercafés über die Gegenwartskunst debattiert wurde. Er schätzte zwar, wie er erklärt, die »Kraft und Schönheit der modernen Malerei, etwa derjenigen Kandinskys (und) Klees«, wollte sich aber nicht von ihr »aufsaugen« lassen, weil er »schon das Gefühl für das Kommende« hatte. Was war damals dieses Kommende für Winkler? Darüber gibt der Maler leider nur unklar Auskunft. Es kann demnach nur in seinem in den zwanziger und dreißiger Jahren geschaffenen Werk gefunden werden. Über dieses einigermaßen verläßlich und fundiert zu reden, fällt freilich außerordentlich schwer, da er nur in bescheidenen Überresten erhalten geblieben ist: Bei der Zerstörung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945 gingen die weitaus meisten und – was schlimmer ist – besten Arbeiten dieser Werkphase verloren. Da Winkler vor dem Krieg praktisch nicht ausgestellt hat und somit auch nicht auf Abbildungen in Katalogen zurückgegriffen werden kann, steht jedes Urteil über das Vorkriegswerk auf tönernen Füßen. Anhand dessen, was mehr oder minder zufällig die Jahrzehnte überdauert hat, läßt sich mit allem Vorbehalt feststellen, daß sich zumindest ein großer Teil der vor dem Krieg entstandenen Arbeiten Winklers recht deutlich von den damals die Szene beherrschenden künstlerischen Stilen und Strömungen abhebt. Es scheint, als sei der Maler schon in seiner Frühphase vorzugsweise eigene Wege gegangen, bereits als junger Mensch der individualistische Außenseiter und Antikonformist, als den wir ihn im Alter kennengelernt haben – es sei denn, der Urheber dieser sehr phantasiereichen, aus Traum und Introspektion geborenen Werke ließe sich als versprengter Adept des Pariser Surrealismus verstehen. »Da sind ja so viele verrückte Sachen«, urteilt Winkler selbst in bezug auf seine frühen Arbeiten. Namentlich auf den noch vorhandenen Zeichnungen verbinden sich disparateste Realitätspartikel auf alogische, manchmal auch sehr spielerische Weise miteinander, durchaus jenem berühmten, dem Dichter Lautréamont entlehnten surrealistischen Gestaltungsprinzipien entsprechend, das »die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch«, also einem Höchstmaß an Irrationalität und Willkür in der Bildersprache fordert. Als paradigmatisches Beispiel für derartige Werke kann die aquarellierte Zeichnung »Seltsamer Nachmittag mit dem weißen Pferd« (1926) gelten. Winkler läßt dort rings um die einzelnen Bildpartien sehr viel leeren Raum, was dem Ganzen etwas Schwerelos-Schwebendes verleiht, so als hätten die Gesetze der Gravitation hier keine Gültigkeit. Das erinnert von fern an die Bilder Marc Chagalls, sieht man davon ab, daß bei Winkler zusätzliche Elemente wie Witz und Humor oder zuweilen auch das Grauenhafte (»Vision im Jahre 1926 ...«) ins Spiel kommen. Winkler also ein früher Surrealist? Nun, der Maler versichert glaubhaft, daß er seinerzeit kaum den Namen, geschweige denn das weitreichende Programm der in Paris gegründeten Bewegung gekannt habe – und das gilt wohl bis Ende der vierziger Jahre, denn vorher hat eine deutsche Rezeption des Surrealismus ja nicht einmal ansatzweise stattgefunden. Rückschauend äußert Winkler die Ansicht, das Interesse am Unbewußten und seinen irrationalen Bildwelten und der Drang, durch die Oberfläche der Erscheinungen hindurch in tiefere Wirklichkeitszonen einzudringen, hätten damals »irgendwie in der Luft gelegen«. Einen gewissen externen Einfluß auf seine »verrückten Sachen«, räumt der Maler heute ein, habe vielleicht die berühmte, 1922 erschienene Publikation Die Bildnerei der Geisteskranken von Hans Prinzhorn gehabt (ein Werk, das beiläufig auch die Pariser Surrealisten sehr geschätzt haben): »Das, so könnte ich vielleicht sagen, hat mich ein bißchen befreit von der akademischen Linie, so daß ich mir sagen konnte: Es gibt also noch etwas anderes, das zwischen den 'Wahrheiten' liegt.«
Ich denke, diese Position zwischen den »Wahrheiten«, zwischen allen Stühlen – ein Ort, der es schwerlich gestattet, sich auszuruhen und geistiges Fett anzusetzen – ist seit jeher Winklers ureigener Platz gewesen, und so scheint es mir streng genommen auch nicht sehr sinnvoll zu sein, in bezug auf das Werk dieses Malers allzu exzessiv mit dem Prädikat »Surrealismus« zu operieren. Wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht und wie einige der nachstehenden Erörterungen noch bestätigen werden, steht Winkler als Künstler zwar dem Surrealismus sehr nahe, so wie er in vielerlei Hinsicht der Romantik nahesteht. Aber der Surrealismus erschöpft sich bekanntlich nicht in seinen künstlerischen Aktivitäten, die er im Grunde sogar als nicht primär ansah. Dieser Ismus war ein organisiertes Kollektiv, dem es in allererster Linie um eine radikale Veränderung des Lebens und der Gesellschaft ging: »La révolution d'abord et toujours!« Winkler hat diesem klar definierten Kollektiv nie angehört, ja die längste Zeit seines Lebens nicht einmal den geringsten Kontakt zu ihm gehabt. So betrachtet, ist es reichlich willkürlich, in bezug auf ihn den ohnehin viel zu leichtfertig, ja inflationär benutzten Begriff »Surrealismus« zu verwenden. Im übrigen tut es der außergewöhnlichen poetischen Qualität seines Werks in keiner Weise Abbruch, wenn hier auf dieses anerkannte Gütezeichen verzichtet wird. Auch der Maler selbst mag es nicht sonderlich, wenn man ihn einem Ismus einverleibt, und sei es demjenigen von Geistern, die der Welt erstmals seit der Romantik wieder einen authentischen Begriff von Poesie nahegebracht haben. Ich darf bei dieser Gelegenheit die Bemerkung anfügen, daß es mit Sicherheit völlig abwegig ist, Winkler der sogenannten phantastischen Kunst (oder dem Manierismus) zuzuordnen, wie dies, vor allem von seiten diverser Ausstellungsmacher, mehrfach geschehen ist. Der phantastische Künstler ist – wie der Priester – ein Parasit der Poesie: er beutet sie lediglich für seine obskuren Zwecke aus. Seine Bilder findet er nicht in den Tiefen seines Selbst, sondern erfindet sie mit dem kalten Verstand. Diese Werke gehören dem rein ästhetischen Bereich, nicht dem der Poesie an; sie bieten uns nicht das Imaginäre selbst, sondern nur Vermummungen desselben, denen jede echte Suggestivität fehlt. Denn der Phantastiker sucht nicht das Verborgene, sondern den spektakulären Effekt, nicht das Wunderbare, sondern das bloß Seltsame. Er baut die alten Trennmauern zwischen Subjekt und Objekt, Innen- und Außenwelt, Realität und Traum usw. nicht ab, sondern verstärkt sie eher. Zwar gibt es phantastische Kunst, die Spuren und Reste von Poesie enthält, so wie sich selbst in manchen dogmatischen Religionen noch Überbleibsel des Mythischen finden, aber das ändert nichts an der grundsätzlichen Inkompatibilität von imaginativer und phantastischer Kunst.
Sucht man nach äußeren Einflüssen auf das frühe Werk Winklers, so sollte man denjenigen seines Dresdner Lehrers Carl Rade nicht übergehen, den der Maler selbst immer wieder als großen Anreger, auch seiner eigenen künstlerischen Entwicklung, gerühmt hat. Es scheint, daß Winkler diesem hervorragenden Pädagogen, der in Dresden »so etwas wie Itten am Bauhaus« (Winkler) war, vor allem die Neigung zum freien, voraussetzungslosen künstlerischen Experimentieren vermittelt hat, das es gestattet, »neue gestalterische Erfindungen« zu machen. Rade, bemerkt Rudolf Jüdes, habe Winkler ferner gelehrt, »das vorgeblich Erhabene (in der Welt) zu durchschauen und der Nichtigkeit preiszugeben«. Diese Souveränität habe den Maler »noch das Geringste als Vehikel seiner Kunst entdecken«; lassen. Freilich, statt allzu sehr nach äußeren Beeinflussungen zu suchen, täte man gut daran, mehr nach jenen Quellen zu fragen, die in der Persönlichkeit des Künstlers selbst liegen und ohne die natürlich überhaupt keine Kunst entstehen kann. Solche Quellen bleiben indes zumeist das Geheimnis des Künstlers oder ihm sehr nahestehender Personen. Im Falle Winklers darf man immerhin vermuten, daß er ohne eine bestimmte persönliche Disposition, die sich erahnen läßt, nicht der bedeutende Bilddichter geworden wäre, den wir kennen. Schon als Kind, berichtet der Maler in einem seiner wenigen Texte, die autobiographische Hinweise enthalten, »war ich oft einsam und habe viel geträumt. Fremdes, Seltsames, Geheimnisvolles, aber auch Buntes und Glitzerndes« hätten ihn schon in frühesten Jahren fasziniert, und stundenlang habe er sich damals »mit verwitterten Holzstückchen und seltsamen Elbkieseln« beschäftigt. Die Neigung, sich aus einer gewissen Isoliertheit heraus vorzugsweise mit seinem Innenleben zu befassen, charkterisiert auch den angehenden Künstler: »Ich habe in der Zeit (i. e. in den zwanziger Jahren) sehr viel geträumt und mich auch manchmal sehr unglücklich gefühlt.« Wir können nicht wissen, was diese introvertierte Gestimmtheit verursacht hat, aber sicher ist wohl, daß Winkler, wenn er als junger Mensch ein so bewegtes Seelenleben hatte, auch eine recht unmittelbare Beziehung zu dieser Sphäre seiner Persönlichkeit besaß. Als lebhafter Träumer war er mit dem Irrationalen, dem Alogischen, der geheimnisvollen Bilderwelt in sich vertraut. Er war ein Mensch, so kann man mutmaßen, bei dem die bei einem »gesunden« Normalbürger unserer »zivilisierten« Breiten üblichen Distanz zwischen Bewußtsein und Unbewußtem verringert war, bei dem diese beiden Bezirke zur gegenseitigen Durchdringung tendierten. Eine solche Konstellation verändert notwendigerweise den Blick auf die Realität und bringt ein Wirklichkeitsverständnis hervor, das sich von dem, das man uns eintrichtert, mehr oder minder deutlich unterscheidet. Alles hängt nun für den jungen Menschen, für den angehenden Künstler zumal, davon ab, ob er diese abweichende Sichtweise bewahren kann, ohne sich den Pressionen und Repressionen der herrschenden Normen zu unterwerfen. Das aber vermögen nur wenige, wie Milan Nápravník in seinem Beitrag über Winkler schreibt, »doch die Naturgesetze der Mutation bewirken immer wieder, daß es Individuen gibt, die nicht anpassungsfähig sein können und bei denen die unbewußten Anlagen klar zutage treten«. Winkler scheint von Beginn an eines dieser Individuen gewesen zu sein.
Wenn, wie wir annehmen dürfen, eine bestimmte Art des poetischen Ausdrucks der Schwerpunkt der künstlerischen Aktivität Winklers vor dem Krieg war, so ist sie doch offensichtlich nicht die einzige gewesen. Die von seinem Lehrer Rade vermittelte Experimentierfreude ließ den jungen Maler sich auch in ganz anderen Stilbereichen versuchen. So entstand bereits 1925 das Mappenwerk »Formbauspiel«, ein konstruktivistisches Experiment, in dem die verschiedenen Möglichkeiten und Ausdruckswerte der Durchdringung von Kreis und Quadrat durchgespielt werden. Die Mappe ist vor drei oder vier Jahren wieder aufgetaucht und im Zusammenhang mit Winklers Dresdner Ausstellung (1987/88) neu gedruckt worden. Dem Maler zufolge ist das Konstruktivistische bis heute eine der Konstanten seiner Gestaltungsweise geblieben. In einem Gespräch mit mir betonte er einmal, daß auch »das Abstrakte, das Geistige« – gemeint war offenbar das Gedanklich-Intellektuelle – in seinem Werk einen Platz habe; es sei »sozusagen das Knochengerüst, während ich das Surreale mehr als das Fleisch betrachte. Und da ist zuweilen das Fleisch näher, und zuweilen sind es die Knochen. Ich glaube, daß in meiner Arbeit bis heute unterschwellig auch noch die Auseinandersetzung mit der konstruktivistischen Abstraktion zu spüren ist.« Mein persönlicher Eindruck aufgrund der mir bekannten Werke ist, daß Winkler dieses Element a posteriori ein wenig überbetont, und das vielleicht ganz bewußt, weil er der von Interpreten und Kritikern so häufig praktizierten Etikettierung seines Werks als surrealistisch oder phantastisch entgegensteuern möchte. Aber wenn es jene Neigung zur geometrischen Ordnung oder zur geometrischen Grundstrukturierung des Bildes bei Winkler tatsächlich gibt, so läßt sie sich in erster Linie wohl als für notwendig gehaltener Gegenpol zum Andrang des Alogischen begreifen, als ein Antidotum sozusagen, mit dessen Hilfe der Maler dieses Alogische vor dem Ausufern ins Amorphe zu bewahren sucht – und sich selbst vor der Gefahr, in einer allzu unkontrollierten Bilderflut unterzugehen. Diese Ausgleichs- und Kontrollfunktion erfüllt womöglich auch die von Winkler immer wieder gesuchte direkte Auseinandersetzung mit der konkreten »dieseitigen« Realität, der er als unermüdlicher, geradezu besessener Skizzierer bis in sein hohes Alter hinein sehr dicht auf der Spur geblieben ist. Zu Recht unterstreicht Heiner A. Hachmeister der Malers »dauernde zeichnerische Beschäftigung mit der menschlichen und tierischen Anatomie (...), mit menschlichen Situationen, ganz realistisch, wo Winkler sich auch gerade befindet, ob im Café, im Flugzeug, in seiner Mühle bei Málaga oder in seinem Niehorster Haus«. Diese permannenten Übungen haben den Künstler über die Jahre hinweg zu einem virtuosen Zeichner gemacht. Sie verraten aber, wie mir scheint, vor allem ein leidenschaftliches Verlangen nach Konkretem und eine immense Freude am »Endlichen«, die ja bei aller Sehnsucht nach dem Unendlichen und Überwirklichen auch schon Romantiker und Surrealisten ausgezeichnet hat. Schließlich bedarf Winkler auch dieser sinnlichen Konkretheit, um seine Phantasmen und Visionen zu materialisieren: So wie sich der Traum aus lauter »Tagesresten« zusammensetzt, bestehen Winklers Bildwelten aus zahllosen identifizierbaren Realitätspartikeln. Seine Sache ist nicht die immaterielle Innenschau der Mystiker und fernöstlichen Mönche, die alles Irdische hinter sich zu lassen trachten – künstlerisch hat das im europäisch-amerikanischen Raum oft in die Sackgasse des schwarzen Quadrats, das heißt letztlich im Ornament geendet – , sondern die materiebesessene, betont diesseitig-lustvolle Paarung von Realem und Imaginärem. Diese Art und Weise der Welt zu begegnen, bestimmt schon Winklers Arbeit in den zwanziger Jahren.
Der eigentliche weiße Fleck im Vorkriegswerk des Malers sind die dreißiger Jahre; aus dieser Zeit ist praktisch überhaupt nichts erhalten. Winkler leitete 1929 bis 1941 in Dresden die private »Akademie für Zeichnen und Malen« des Hofrats Simonson-Castelli, und er ging dieser Lehrtätigkeit mit Enthusiasmus und Hingabe nach. Hat er darüber, wie übrigens bereits sein Meister Rade, die eigene Produktion vernachlässigt? Sicher ist, daß er sie mehr noch als zuvor der Öffentlichkeit vorenthielt, zum einen, weil er seine Schüler nicht den Versuchungen der Nachahmung aussetzen wollte, zum anderen aber auch, weil es von 1933 an für ihn nicht ratsam war, seine »verrückten Sachen« vorzuzeigen, da doch die Nationalsozialisten nicht zögerten, einige Arbeiten des Malers, die vor der Machtergreifung Hitlers entstanden waren und die sich in oder an öffentlichen Gebäuden Dresdens befanden, zu zerstören oder zu übermalen. Im übrigen blieb Winkler jedoch seiner, wie er sagt, »unpolitischen Einstellung wegen« (die man beiläufig kaum als surrealistisch bezeichnen kann) von den Braunen lange unbehelligt, bevor schließlich der – nicht unberechtigte – Verdacht auf ihn fiel, er unterstütze dem Regime nicht genehme Personen. Da freilich erschien die Gestapo zu nächtlichen Hausdurchsuchungen in seiner Wohnung.
Eigentlich verdiente der Pädagoge Winkler eine gesonderte Würdigung. Doch dazu mögen sich Berufenere äußern. Fest steht, daß der Maler Lehrer aus Leidenschaft war und ist: Er war es seit 1926 als Assistent Rades, 1928 als Lehrer an der Castelli-Schule, dann 1929 bis 1941 als deren künstlerischer Leiter. Selbst als Soldat ist er dieser Tätigkeit nachgegangen, und nach dem Krieg hat er sie in einer Reihe von Gastdozenturen an in- und ausländischen Hochschulen sowie in zahlreichen privaten Kursen fortgesetzt. Noch als Siebenundachtzigjähriger, just zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Beitrags, hält Winkler Lehrveranstaltungen an der Universität Paderborn ab. Es ist vor allem der als »vitalisierend« (Winkler) empfundene Kontakt mit jungen Menschen, der ihm die Lehrtätigkeit als wichtig erscheinen läßt. In einem seiner Texte heißt es: »Junge Menschen, die als Schüler zu mir kamen und denen ich mich stets mit gleicher Begeisterung widmete, waren mein Trost und meine Hoffnung, wenn ich sehen durfte, daß es möglich war, sie zu einer freieren, aufgeschlosseneren und besseren Generation heranzubilden.«
Es gibt bei Winkler nicht nur den Andrang des Irrationalen, es hat auch einmal eine Bedrängung durch das Reale, ein alptraumhaftes Reales, gegeben. Sie war so bedrückend, daß der Maler die Fähigkeit, seine inneren Erlebnisse künstlerisch zu artikulieren, vorübergehend einbüßte. Dieses Reale war der Krieg oder genauer: seine furchtbaren Folgen. Es wirkte erst mit einiger Verzögerung auf Winkler, zu der Zeit nämlich, als er, 1947 aus der Kriegsgefangenenschaft zurückgekehrt, seine für sechs Jahre unterbrochene künstlerische Arbeit wieder aufnehmen wollte. Da aber überfiel es ihn so heftig, »daß ich jahrelang beinahe nichts machen konnte. Ich habe nachts geschrieen, obwohl ich gar keinen so schlimmen Krieg erlebt hatte wie andere.« Aber Dresden, vor 1945 eine der schönsten Städte Mitteleuropas, bot sich Winkler 1947 so dar: »Ich kletterte über Ruinenhaufen (...). Es war totenstill in der einst so lebendigen Stadt. (...) Alles war niedergewalzt, und der Blick ging weit übers Land, nur hier und da durch Ruinenreste aufgehalten.« Hinzu kam das Trauma, den weitaus größten und wichtigsten Teil des bis 1941 geschaffenen Werks – zwei Jahrzehnte Arbeit – unwiederbringlich verloren zu haben und vor der bitteren Notwendigkeit zu stehen, als Fünfundvierzigjähriger noch einmal von vorn zu beginnen: »In der Scheffelstraße im Zentrum (Dresdens) fand ich dann auch den Platz, wo mein Atelier gewesen war. (...) Ich suchte in dem Schutt, fand aber keinerlei Reste oder Erinnerungsstücke. Alle meine Bilder sowie meine Sammlung und meine Bibliothek waren vernichtet.« Man kann sich vorstellen, wie dies alles jenes prekäre Gleichgewicht im »Seelenhaushalt« gestört haben muß, das die Voraussetzung von Winklers Kreativität war. Das Trauma hat übrigens lange nachgewirkt: Noch in den sechziger Jahren geschah es, so Winkler, daß er nachts schreiend aus Alpträumen hochschreckte. Deprimierend dürfte für ihn ferner, nach dem Leben in der weltläufigen Kunstmetropole Dresden, die Erfahrung provinzieller Isolation im kleinstädtischen Gütersloh gewesen sein, wo er »stets kontaktlos wie im luftleeren Raum« (Winkler) gelebt hat. Man weiß, welche Qualen die Enge der deutschen Provinz einem offenen, lebendigen Geist zu bereiten vermag. Ich erinnere, gerade was das gottesfürchtige Westfalen angeht, an Christian Dietrich Grabbe und sein Detmold.
Winkler spricht gelegentlich von einer »jahrelangen Schaffenskrise« in der Zeit um 1950, die er durch künstlerisch sekundäre Brotarbeiten wie das Illustrieren von Büchern habe überbrücken müssen. Dennoch sind damals, wenn auch nicht in der später so atemberaubenden Fülle, einige bedeutende Werke entstanden. Die Überwindung der Krise, sofern es sich tatsächlich um eine solche gehandelt hat, gelang Winkler in den fünfziger Jahren sehr rasch. Es begann die Zeit, in der er, wie er schreibt, »unter innerem Zwang und mit größter Intensität« an seinem Werk arbeitete. Inwiefern er mit diesem Neubeginn an sein verlorenes Vorkriegsœuvre anknüpfte, läßt sich, da uns dieses fast unbekannt ist, leider nicht sagen. Wir wissen auch nicht, ob ihn schon vor 1941 diese unbändige Schaffenslust erfüllt hat, die sich nun immer eindrucksvoller manifestierte. Ich muß gestehen, daß ich nicht viele Winkler-Arbeiten aus den fünfziger Jahren kenne – sie befinden sich überwiegend, nicht leicht erreichbar, in Privatbesitz –, und so habe ich eine fundierte Bewertung Kompetenteren zu überlassen. Doch soweit ich das beurteilen kann, hat Winkler die bildkünstlerischen Tendenzen jener Zeit, in der lyrische Abstraktion, Informel und Tachismus eine beinahe despotische Alleinherrschaft innehatten, mit Interesse, vielleicht sogar mit Faszination aufgenommen, dabei aber wiederum, als der nonkonformistische Individualist, der er schon vor dem Krieg gewesen war, genügend Selbständigkeit bewiesen, um sich nicht einfach an diese Strömungen zu verlieren. Er ließ sich anregen, verwandelte Gesehenes der eigenen Ausdruckssprache an, beharrte aber auf seinem persönlichen Weg. Adolf Smitmans hebt die »kultivierte Farbigkeit« und die »sensibel-sinnliche Linienführung« der Bilder dieser Periode hervor, in der Winkler in bezug auf die Erprobung neuer Techniken einen großen Schritt nach vorn machte. »Die in der Farbe intensiven Bilder wirken dennoch weich, ja manchmal geradezu zärtlich. Dazu kommen spielerische, scherzhafte, auch selbstironische Elemente.« Smitmans' Fazit lautet: »Gäbe es nur diese Bilder bis zur Mitte der sechziger Jahre, wir sähen einen bedeutenden zeitgenössischen Maler (...).« Eigentlich müßte man von diesem Zeitpunkt an – der Maler befand sich inzwischen in seinem siebten Lebensjahrzehnt – von Winklers Alterswerk reden. Aber das ist in diesem Falle ein höchst fragwürdiger Begriff, denn er besagt ja in der Regel, daß der betreffende Künstler ein bestimmtes Stadium erreicht hat, das man gern als Reife bezeichnet, in dem sich jedoch in Wirklichkeit meist Stillstand und Routine breitmachen. Nichts davon bei Winkler, ganz im Gegenteil. Das, was er in den zurückliegenden zweieinhalb oder drei Jahrzehnten geschaffen hat, besitzt alle Eigenschaften lebendiger Jugendlichkeit: Freiheitsdrang, Spontaneität, Schaffenskraft und vor allem eine unbändige poetische Abenteuerlust. Es scheint, als habe sich der Drang, sein Entdecken und Erleben von Wirklichkeit auf seine spezifische Art und Weise ins Bild zu bringen, nun erst, Anfang bis Mitte der sechziger Jahre, in seiner ganzen Intensität entfaltet, ja zu einem regelrechten Ausdruckszwang gesteigert. »Nie zuvor sah ich ein solches Alterswerk«, schreibt Smitmans bewundernd. Von diesem »Alterswerk« her gesehen, um das zahllose jüngere Maler Winkler beneiden dürften, erscheint alles Vorangegangene beinahe wie ein bloßes Präludium, wie Saatgut gleichsam, das aus irgendeinem geheimnisvollen Grund übermäßig lange im Boden ruht, ehe es schließlich aufgeht, um nun aber mit um so größerer Kraft und Geschwindigkeit, so als gelte es, die verlorene Zeit wieder einzuholen, zu einem überwältigend üppigen, höchst vielgestaltigen und formenreichen Gewächs auszuwuchern. Nein, von Stagnation kann bei Winkler wahrlich nicht die Rede sein, seit er das Alter erreicht hat, in dem der Normalbürger in den Ruhestand tritt; er begegnet uns hier immer noch, ja mehr denn je, als ein leidenschaftlich Suchender, der sich zudem im Vollbesitz seiner künstlerischen Mittel befindet. Für ihn gilt dasselbe, was John Russell von Max Ernst gesagt hat, den es »in seinem Alter, in dem viele anerkannte Künstler sich mit einträglichen Wiederholungen zufrieden geben, zu immer neuen Auseinandersetzungen dräng(te)«. Ernst selbst äußerte sich einmal – in der dritten Person – über »die sogenannte 'Vielschichtigkeit' in seinem Schaffen«: »Ein Maler mag wissen, was er nicht will. Doch wehe, wenn er wissen will, was er will! Ein Maler ist verloren, wenn er sich findet. Daß es ihm geglückt ist, sich nicht zu finden, betrachtet Max Ernst als sein einziges 'Verdienst'.« Diese Feststellung läßt sich ohne Einschränkung auf Winkler übertragen: nirgends ein Anzeichen, daß er Erreichtes nurmehr mechanisch reproduziert und zum Plagiator seiner selbst wird. Er verliert sich immer noch mit jedem Werk, das er hervorbringt. Übrigens hat dies sicher ganz wesentlich dazu beigetragen, daß professionelle Kunstrezipienten sich mit seinem Werk sehr schwer taten, das ihnen in seiner proteushaften Vielfalt und Vielseitigkeit wohl zu kompliziert, zu widersprüchlich und zu sperrig ist. Erst recht sind es natürlich die auf stromlinienförmige, leicht wiedererkennbare Serienartikel erpichten großen Kunstkrämer, die eine solche Eigenart abschreckt.
Winkler »respektiert keine Grenzen«, stellt Smitmans in bezug auf Winklers Arbeit der letzten Jahrzehnte fest. Das ist ein Kernsatz, der diesen Künstler hervorragend charakterisiert. Eben in dieser Nichtbeachtung aller Grenzen gründet die Vielfalt seines Schaffens. Diese manifestiert sich bereits auf der Ebene der Technik und des verwendeten Materials. Die technische Skala ist breit: Bleistift- und Federzeichnung, Aquarell, klassische Ölmalerei, Collage, Assemblage, Materialbild, Objekt und Objektkasten, Plastik usw., um nur die wichtigsten zu nennen. Dabei wird häufig sogar das eine mit dem anderen vermischt. Zwischen der Zweidimensionalität des Zeichenpapierblatts und der Dreidimensionalität der Skulptur gibt es kaum ein Ausdrucksmittel, das Winkler nicht erprobt hätte. Noch unbegrenzter ist der Katalog der Materialien, die er benutzt: Es gibt praktisch nichts, das nicht Eingang in seine Bilder finden könnte. Eine beträchtliche Vielfalt zeichnet auch die Formate der Werke aus. Von der zettelgroßen Zeichnung bis zu wandfüllenden Assemblage, vom kleinen, kaum modifizierten objekt trouvé bis zum monumentalen Triptychon ist in seinem Atelier, das übrigens vor einigen Jahren erheblich ausgebaut werden mußte, alles anzutreffen. Wesentlicher ist, daß sich diese Vielfalt auch auf der Ebene des Bildlichen findet. Was die inhaltlichen Momente betrifft, so verbindet Winkler »den Witz mit dem Mythos, das Frivole mit der Religio« (Smitmans) ebenso frei, wie er Alltägliches und Geheimnisvolles, Sublimes und Banales, Zeitgeschichtliches und Exotisches zusammenfügt: ein Repräsentant der romantisch-surrealistischen »Willkür«, die auch noch das Disparateste zur Paarung zwingt. Von enormer Bandbreite ist auch das, was Winkler an Stimmungen und Ausdrucksvaleurs bietet. Das variiert vom breit Erzählerischen bis zum konzentriert Lyrischen, vom Dramatischen bis zum Meditativen, vom Rausch bis zur Askese, von der Stille bis zum Trompetengeschmetter. Es gibt Leinwände mit fast leeren monochromen Flächen und Materialbilder, die von Formen und Farben geradezu überquellen. Und schließlich – das ist besonders bemerkenswert – bewegt sich Winkler völlig frei zwischen Figuration und Abstraktion. Dies sind bei ihm, den Auffassungen der akademischen Kunsttheorie zum Trotz, keineswegs unvereinbare Gegensätze, sondern lediglich Pole einer poetischen Sprache, die keinerlei künstliche Trennungen kennt. Der Maler betrachtet diese Pole einfach als unterschiedliche, aber zusammenhängende Möglichkeiten, seine Erfahrung der Unendlichkeit des Wirklichen zur Anschauung zu bringen.
Woher rührt diese erstaunliche Freiheit? Wenn auf einigen der erhaltenen frühen Zeichnungen Winklers die Gesetze der Gravitation wie aufgehoben erscheinen, so äußert sich diese Eigentümlichkeit nun, in der Spätphase, als innere Schwerelosigkeit des Künstlers selbst: Leicht wie eine Feder treibt sein abenteuernder Geist, von allem Verfestigten und Begrenzten gelöst, in einem Raum, in dem Extreme sich berühren und in dem sich alles mit allem zu verbinden und zu verschlingen sucht. Eben dies ereignet sich auf Winklers Bildern, und das erklärt eine Eigenart dieser Werke, die man vielleicht, mehr noch als ihren prachtvollen Lyrismus und ihre hinreißende Suggestivität, als ihr Hauptcharakteristikum bezeichnen muß. »Ich habe ein Laster«, hat Winkler mir einmal gesprächsweise gestanden: »die Sinnlichkeit.« Man muß blind sein, scheint mir, um beim Betrachten der Arbeiten des Malers dieser evidenten Tatsache nicht gewahr zu werden. Treffender noch wäre es, statt von Sinnlichkeit von Erotik zu sprechen. Das bezieht sich nicht darauf, daß in den Arbeiten an zahllosen Stellen immer wieder mehr oder minder unverhüllte erotisch-sexuelle Details zu erkennen sind; vielmehr sind die Werke als ganze durch und durch libidinös. Die erotische Spannung ist mitunter so stark, daß gewisse Arbeiten, über den Bildrand hinaus- und aus der Zweidimensionalität herauswuchernd, sich gebärden, als wollten sie den Betrachter selbst in ihr orgiastisches Zauberreich hineinziehen und so noch diese letzte Trennwand zum Einsturz bringen. Wenn ich in einer Ausstellung oder in einem Farbkatalog mit dem Blick flüchtig, ohne näher hinzusehen, über eine Gruppe von Winkler-Bildern streife, habe ich manchmal den Eindruck, dieser Maler stelle im Grunde nichts anderes dar als menschliche Körper – lebendiges, warmes, von Begierde erfülltes Fleisch. Diese alles durchdringende Erotik ist freilich eine Eigentümlichkeit, die im Grunde jede Poesie, so wie sie weiter oben charakterisiert wurde, auszeichnet. Das Erotische ist geradezu der Wesenskern dieser Poesie. Die Passivität des Dichters oder Künstlers im poetischen Akt ist, wie Octavio Paz bemerkt, »Aktivität des Verlangens«. Es ist das Verlangen, die Grenzen seiner Individualität zu sprengen und mit dem Anderen – einem Du, der Natur, der Welt insgesamt – lustvoll eins zu werden. Die innerste Triebkraft der Imagination, die sich, wie Marcel Havrenne erklärt, »instinktiv von allem abwendet, was nichts zu wünschen übrig läßt«, ist die Begierde. Bei den Romantikern wie bei den Surrealisten wird die Liebe als Analogon für die Poesie begriffen – und umgekehrt. Wie in der Poesie verschlingt sich in der Liebe das Zeitliche mit dem Ewigen, das Endliche mit dem Unendlichen, das Materielle mit dem Geistigen zu jener Ganzheit, die »eins und alles« ist. Der Geist der Liebe müsse in der romantischen Poesie überall anwesend sein, verlangte Friedrich Schlegel. Und in einem Gedicht Bretons heißt es: »Die Poesie wird im Bett gemacht wie die Liebe« ...
Wie entstehen Winklers Bilder? »Das Weiß der Leinwände ist kein Grund zum Malen«, schreibt Frieder Schellhase in seinem Beitrag. »Man wird nur selten feststellen«, bestätigt Heiner A. Hachmeister, »daß Winkler von einem blütenweißen Papier ausgehend seine Phantasie ausspinnt.« Der Maler selbst hat sich verschiedentlich zu diesem Punkt geäußert, so daß hier auf seine Angaben zurückgegriffen werden kann. Den Anstoß zur Arbeit gibt fast immer die konkrete, sinnliche Stofflichkeit irgendwelcher x-beliebiger Materialien, unter denen zufällig gefundene, meist ganz unscheinbare Abfallgegenstände aus der Menschenwelt oder auch tote Dinge aus der Natur bevorzugt werden: ein halbverwittertes Stück Holz, ein verrostetes Ende Draht, Skelette von Vögeln und anderen Tieren, ein weggeworfener Schaumlöffel, zerrissenes Sackleinen, banale Wellpappe und dergleichen mehr. Oft ist es sogar nur ein simpler Fleck, zum Beispiel auf Verpackungspapier, der den kreativen Prozeß in Gang setzt. Möglicherweise rührt Winklers Vorliebe für solchen Trödel daher, daß es sich dabei um Dinge handelt, die aus der Ordnung des Nützlichen, also aus dem Festumrissenen, herausgefallen sind und die sich in dieser zweckbefreiten, suggestiven »Unschärfe«, in der sie nichts mehr und potentiell doch zugleich alles bedeuten, hervorragend als Sprungbrett in jenen »vollkommenen Zustand der Distraktion« (Breton) oder der Bewußtseinsleere eignen, der die Voraussetzung für das Wirken des anderen, des analogischen Denkens ist. Mit Beginn der Arbeit ist nichts gegeben: keine fertige Idee, keine gedankliche Absicht, keine vorformulierte »Botschaft«, die nurmehr bildnerisch einzukleiden wäre. Die Operation soll so voraussetzungslos wie möglich sein, und das mit jedem neuen Werk, das begonnen wird: »Geschicklichkeit, eine künstlerisch historische Ausrichtung, technische Virtuosität und Wissen sind beim Eindringen in ein Zauberland eher hinderlich«, versichert Winkler. Ansatzpunkt ist nur jener bedeutungslos-bedeutungsträchtige Rohstoff sowie die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich von ihm, wie einst Leonardo von seinem Fleck auf der Mauer, in eine tranceartige, dem Träumen verwandte Geistestätigkeit hineinziehen zu lassen, an welcher das normale Bewußtsein, das »zivilisierte« Ich keinen oder nur einen geringen Anteil haben, sondern die vom »wilden« Denken bestimmt wird. Es geht darum, gleichsam aus seiner Haut zu fahren und, so Winkler, »mit allen Fasern (seines) Seins in einer intuitiven Überwachheit in Farbe, Form und Material zu kriechen«. Ein »neues, traumhaft einsetzendes Denken und Fühlen« bewirkt, daß sich der Künstler verliert und »die landläufigen vermeintlichen Wahrheiten und Realitäten (...) zu Illusionen« werden. Nicht das Ich, sondern das »Es« ist also die Sphäre, in der der bildschöpferische Vorgang stattfindet, bei dem der Künstler, als Subjekt verstanden, nur eine passive Rolle spielt, weil er, wie Winkler hervorhebt, nicht agiert, sondern bloß reagiert (»wie ein Seismograph«) und lediglich »die Funktion des Mediums« erfüllt: »Eine geheime, zwingende Macht schafft selbständig« (Winkler) und läßt das Bild wie ein Organismus, wie die Natur selbst in seine fertige Gestalt wachsen. Genau genommen ist der Künstler also gar nicht das Subjekt des schöpferischen Prozesses, sondern sein Objekt; der Maler glaubt zu schaffen, aber in Wirklichkeit handelt es sich eher um ein Geschaffenwerden: Der poetische Künstler ist nicht so sehr der Autor als vielmehr das Produkt seines Werks. Winkler scheint sich dieses paradoxen Sachverhalts bewußt zu sein, denn in einem seiner Texte spricht er davon, daß sich der Künstler durch seine schöpferische (selbstschöpferische) Arbeit »in neuen Geburten« wiederfinde. Diese Arbeit ist eher ein Spiel, und Winkler betont auch ausdrücklich den lustvollen Charakter dieser »passiven Aktivität«, wenn er von den »glücklichen Augenblicken« einer Selbstentrücktheit spricht, die »den Geist Funken schlagen« läßt. Es sind dieselben Funken, die auch der geschlechtliche Zeugungsakt freisetzt. Der vollständige oder weitgehende Verzicht auf eine Kontrolle durch das Bewußtsein bewirkt, daß das Resultat des schöpferischen Liebesspiels in seiner Gestalt kaum vorhersehbar ist: »Ein bescheidener Anfang ohne großes Wollen ist es zumeist, was mich zur Gestaltung treibt«;, schreibt Winkler. »(...) Eigentlich wollte ich nur eine kleine Suppe kochen. Doch habe ich mich mit meinem Kochlöffel, sprich Pinsel verloren und vergessen, bin ausgebrochen, habe aus- und angebaut, bin über den Rahmen gekrochen. Plötzlich erwache ich und sehe: Es ist ein ganzes Menü geworden.«
Auch und gerade diese Schaffensweise verbindet Winkler mit den Romantikern und Surrealisten, in deren Theorie der Poesie die sogenannte »genetische Methode« bzw. der »psychische Automatismus« eine grundlegende Bedeutung haben. Die »vernünftig denkende Vernunft«, so versicherten die Romantiker, sei außerstande, von sich aus zur Erfahrung des Absoluten zu gelangen; das reflexive Bewußtsein kann sich diesem Absoluten nur öffnen, und dazu muß es sich gleichsam leer machen: Es muß zum passiven, rezeptiven, »elastischen Medium« (Novalis) werden. Das geschieht durch das Ausschalten möglichst jeder Reflexionstätigkeit, an deren Stelle das »magische Denken« (Novalis), das ungebundene Schweifen der Imagination tritt. Die romantische Idealvorstellung von einem Kunstwerk ist, daß sich dieses gewissermaßen »von selbst« also (auto-)»genetisch« hervorbringt, daß es entsteht wie die Natur, ja als Natur. Wenn sich aber die Poesie des Kunstwerks selbst zeugen kann, so bedeutet dies, daß sie nicht nur allen anderen menschlichen Tätigkeiten, sondern dem Menschen selbst gegenüber autonom ist: Das Poetische ist eine höhere, umfassendere Kategorie als das Menschliche, beruhend auf dem Gegensatz von Seinsgefühl und Seinsmangel, wo bei sich der Mangel jedoch durch »Erhebung des Menschen über sich selbst« in Fülle zu verwandeln vermag. Ganz ähnliche Auffassungen vertraten die Surrealisten, die ihre Tätigkeit im ersten Manifest als »reinen psychischen Automatismus« und »Gedankendiktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits aller ästhetischen oder moralischen Erwägungen«, definierten. Für die poetisch-künstlerische Tätigkeit bedeutet dies, daß die Dichter oder Maler »zu tauben Empfängern« der Inspiration, »zu bescheidenen Registriermaschinen« (Breton) einer Stimme werden müssen, die aus den verborgensten Tiefen hervordringt. »Damit das Kunstwerk wahrhaft unsterblich sei«, hatte schon Giorgio de Chirico erklärt, in dessen Frühwerk die Surrealisten den Inbegriff poetischer Bildkunst sahen, »muß es die Grenzen des Menschlichen völlig hinter sich lassen: der gesunde Menschenverstand und das logische Denken sind in ihm fehl am Platz. Auf diese Weise nähert es sich dem Traum und dem geistigen Zustand des Kindes.« In einem Essay über den Romantiker Achim von Arnim weist André Breton darauf hin, daß der Künstler romantischen Typs im Grunde immer das Objekt des poetischen Zeugungsvorgangs ist: »Alles Wollen des Künstlers ist außerstande, den Widerstand zu brechen, den die unbekannten Absichten der Natur seinen eigenen Absichten entgegensetzen.«; Und das Gefühl, »von Kräften getrieben zu werden – um nicht zu sagen ihr Spielball zu sein – , die unsere eigenen übersteigen«, sei seit der Romantik in Kunst und Dichtung immer stärker zutage getreten. Als eine Art Kronzeugen dieser Entwicklung zitiert Breton Arthur Rimbaud, von dem die Feststellung stammt: »Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Man sollte sagen: Ich werde gedacht.« Seither, so Breton, hätten die Künstler sich immer wieder die Frage stellen müssen: »Gehört das, was wir schaffen, uns?«
Ich denke, das Gesagte zeigt, daß es nicht abwegig ist, Winklers künstlerische Verfahrensweise mit Begriffen wie »genetische Methode« und »psychischer Automatismus« in Verbindung zu bringen. Die Parallelen springen ja geradezu ins Auge. Und vielleicht ist es nicht nutzlos, einige weitere Begriffe an Winklers Werk heranzutragen, die, wie ich meine, ebenfalls einigen heuristischen Wert besitzen. Da sind beispielsweise die Kategorien des Onirischen und des Zufälligen, die in der modernen Kunst insgesamt, wie sie sich seit der romantischen Revolution entwickelt hat, eine zuweilen zentrale Rolle spielen. Ähnliches gilt für die Kategorie des Spielerischen. Auch sie hat, insbesondere wieder bei den Romantikern und Surrealisten, und zwar nicht nur im Zusammenhang mit ihrer Konzeption des genetisch-automatischen Entstehens von Kunst, eine wesentliche Bedeutung gehabt. Kunst wie die Natur selbst hervorzubringen, hieß für Novalis und seine Gesinnungsgenossen vor allem auch, spielerisch zu schaffen. Wenn in der Magie des poetischen Akts die Ganzheit des Wirklichen als Spiel von Assoziationen und Korrespondenzen erscheint, so wird der Poet, wie Novalis sich ausdrückt, zum »Meister eines unendlichen Spiels«. Anknüpfend an Schillers Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«, sahen namentlich die deutschen Frühromantiker in der Betätigung des Spieltriebs, auch im außerkünstlerischen Bereich, die reinste und stärkste Äußerung menschlichen Wesens, ja sie behaupteten, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele. Wie die Dadaisten – »Man folgte dem Spieltrieb und dem Zufall, wohin er einen auch führte« (Hans Richter) – widmeten auch die Surrealisten dem Spielerischen, das sie von ihrer radikalen kulturkritischen Position her der Arbeit als einem der tragenden Werte der christlich-bürgerlichen Zivilisation als fundamentalen Wert entgegenstellten, die größte Aufmerksamkeit. Immer wieder standen Spiele, die sie eigens erfanden (der bekannte »Cadavre exquis« beispielsweise), als gleichsam das Bewußtsein öffnende und verjüngende Übungen im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten. »Was wir Kunst nennen, ist Spiel«, hat einer von ihnen, Octavio Paz, bemerkt. Und Paz betont, daß die »Kunst« (in Anführungszeichen) eine Erfindung der Ästhetik sei, die wiederum die Philosophen erfunden hätten. »Kunst« gibt es nach dieser Auffassung gar nicht, sondern nur das Mit-sich-selber-Spielen der Poesie, durch das der Mensch, wenn er inspiriert genug ist, an ihm teilzunehmen, über sich hinausgehoben und organischer Bestandteil einer wunderbaren Ganzheit wird. Es ist also eigentlich ein falscher Sprachgebrauch, wenn man von Winklers künstlerischer Arbeit spricht. Wie der Maler selbst gelegentlich andeutet (»Das Spiel mit dem Handwerklichen« ...), ist sein Verfahren essentiell spielerischer Natur. Dieser Maler begegnet uns in einer Epoche, die der »homo faber« beherrscht, als Exponent der aussterbenden Spezies des »homo ludens«.
Porträt von Otto Dix, 1972
Diese Feststellung führt zu einem weiteren Begriff, der nach meinem Dafürhalten zur Erklärung und Bestimmung von Winklers Werk von Nutzen ist: dem der Kindlichkeit oder der kindlichen Mentalität. Ich erinnere mich, wie ein Besucher der Bochumer Winkler-Retrospektive von 1982, nach seinem Eindruck von den Exponaten gefragt, lakonisch feststellte: »Sehr verspielt und kindisch«. Das war zweifellos als Kritik gemeint, aber es ließe sich auch ohne weiteres als positives Urteil verstehen. Mir scheint, gerade das Kindliche, in einem bestimmten Sinne verstanden, ist einer der großen Vorzüge von Winklers Kunst. Kindlichkeit heißt doch auch – das ist die Bedeutung, in der Chirico in dem oben eingefügten Zitat das Wort versteht – , den Erscheinungen der Welt mit einem höheren Maß an Emotionalität und nicht durch das den Blick verengende, die Erlebnisfähigkeit mindernde Raster der pragmatischen Rationalität gegenüberzutreten, die unser Bewußtsein so einseitig beherrscht. Für das Kind ist nicht »Zweck und Gebrauch« (Winkler) Angelpunkt der Welterfahrung, sondern die Lust. Das Kind – »polymorph-pervers« hat die Psychologie es genannt – denkt und empfindet nicht pragmatisch, rational und logisch, sondern analogisch, poetisch und lustorientiert. Ihm erscheine die Welt noch als »ganz besonders merkwürdig und märchenhaft«, schreibt Winkler, der es (vgl. Neil Postmans »Das Verschwinden der Kindheit«) als gravierenden Verlust ansieht, daß »die Faszination kindlicher Einbildungskraft« in unserer so nüchtern denkenden Zeit mehr und mehr verloren gehe: »Sie taucht nur noch bei einzelnen auf, die infolge ihrer Naivität von der Norm abzuweichen verstehen (...).« Er selbst fordert dieses Abweichen, und sein Werk ist ein beredter Ausdruck der Revolte gegen die Einseitigkeit und den Absolutheitsanspruch des »zivilisierten« Bewußtseins, das nicht vom Lust-, sondern von einem auf Reduktionen und Repressionen basierenden Realitätsprinzip bestimmt wird. Angesichts der Enge, der Oberflächlichkeit und des entfremdenden Charakters unserer Weltsicht wünscht er dem Menschen Mut zur geistigen Maßlosigkeit: eine »Hemmungslosigkeit, die man gewöhnlich nur noch bei Kindern und Geisteskranken beobachten kann«. Zu Recht verweist Winkler darauf, daß die Rückkehr zu einer kindlichen Gemütsart das Ziel vieler Künstler der Moderne gewesen sei: »Worum zum Beispiel ein Picasso ein ganzes Leben lang gerungen hat, um zu einfachen und lapidaren Ausdrucksformen zu gelangen, das haben Kinder (...) und sogenannte Primitive a priori (...).« Wenn es die Kindlichkeit als schöpferische Methode gäbe, wäre Winkler sicherlich einer der ersten, die als Adepten genannt werden müßten. Aber obwohl zahlreiche Künstler auch des 20. Jahrhunderts versucht haben, das Kind in sich wiederzuentdecken, erweist es sich für den Erwachsenen doch immer wieder als äußerst schwierig, zu diesem verschütteten Geisteszustand zurückzugelangen. Wahrscheinlich ist Kindlichkeit in der positiven Bedeutung des Wortes für den Erwachsenen eine seltene Gabe, fast eine Gnade. Dieser Gnade, scheint mir, ist Winkler noch als Siebenundachtzigjähriger teilhaftig.
Auch von diesem Gesichtspunkt aus ist der Maler ein Erbe bzw. Geistesverwandter der Romantiker und Surrealisten. Denn der als begrenzend und befreiend verstandene Aspekt der Kindlichkeit wurde mit Nachdruck bereits von diesen Bewegungen hervorgehoben, die die vorzivilisatorische »kindliche Unschuld« bisweilen sogar in den Rang einer gesellschaftlichen Utopie erhoben haben. Wo Kinder seien, erklärt Novalis, da sei ein goldenes Zeitalter. Und Runge, der immer wieder Kinder gemalt hat, verlangte, Kinder müßten wir werden, wenn wir das Beste erreichen wollten. »Wenn (der Mensch) sich einige Hellsichtigkeit bewahrt hat«, schreibt André Breton seinerseits, »dann kann er nicht anders, als sich wieder seiner Kindheit zuzuwenden, die ihm, so sehr sie auch durch die Bemühungen seiner Dresseure verpfuscht sein mag, dennoch als von Zauber erfüllt erscheint (...). Von den Kindheits- und einigen anderen Erinnerungen geht ein Gefühl der völligen Ungebundenheit und in der Folge das Gefühl aus, abgeirrt zu sein, das ich für das fruchtbarste von allen halte. Die Kindheit nähert uns vielleicht am meisten dem wahren Leben'«, das heißt jener Surrealität, worin das partikularisierte Wirkliche wieder in seiner Totalität erscheint. »Kinder und sogenannte Primitive«: beider Mentalität ist in vielerlei Hinsicht verwandt. Auch der Primitivismus oder Archaismus ist, wie ich meine, ein möglicher Hilfsbegriff, durch den sich Winklers Werk in seiner vollen Bedeutung besser fassen läßt. Es ist hier nicht die Rede davon, daß sich, wie jeder Betrachter leicht feststellen kann, in einer ganzen Reihe von Arbeiten Winklers formale Anklänge an exotische Kunst, etwa die der Südsee, finden. Das sind kaum mehr als Zitate, deren Ursprung vermutlich in der Tatsache zu suchen ist, daß der Maler als junger Mann seinen Lebensunterhalt zeitweise als Zeichner im Dresdner Völkerkundemuseum verdient hat. Die Affinität geht über Äußerlichkeiten weit hinaus und weist auf den eigentlichen Sinn von Winklers poetischer Botschaft. Oberflächlich betrachtet, besitzen die Werke dieses Malers ja keine »Aussage«, jedenfalls keine unmittelbar erfaßbare, mehr oder minder mühelos zu extrapolierende, wie sie etwa die Arbeiten eines politisch engagierten Malers haben. Aber die »Willkür« im Entstehungsprozeß eines poetischen Werks bedeutet natürlich nicht, daß es keine Aussage enthält. Daß sogar die Ordnungslosigkeit selbst eine Bedeutung, und zwar eine sehr tiefe und grundlegende, haben kann, lehrt uns das, was Religionshistoriker, Völkerkundler, Soziologen usw. über bestimmte Ritualhandlungen herausgefunden haben, wie sie namentlich bei archaischen Völkern verbreitet sind bzw. waren. Der französische Soziologe Roger Caillois beispielsweise hat in seinem Buch L'Homme et le sacré eine »Theorie des Festes« entworfen, die zahlreiche Merkmale der religiös-zeremoniellen Ebene herausstellt, die im bildkünstlerischen Bereich für die Arbeiten Winklers charakteristisch sind. Über die Gemeinsamkeit der Merkmale hinaus kann man sogar von einer wesensmäßigen Übereinstimmung sprechen, die so weitreichend ist, daß ich die Behauptung wage, daß Winklers Kunst mehr mit gewissen Riten der australischen Ureinwohner gemein hat als mit jener »Westkunst«, die eingangs charakterisiert wurde. Nach Caillois definiert sich das gesellschaftlich-rituelle Phänomen Fest durch seine absolute Gegensätzlichkeit zur gewöhnlichen Realität. Ist diese gekennzeichnet durch eine stabile, auf allgemeingültige Regeln, Gesetze und Tabus aller Art sich gründende Ordnung, die notwendig ist, um das soziale Zusammenleben zu gewährleisten, so manifestiert sich das Fest als Ausbruch aus allen Ordnungen; es ist eine Periode, in der das Bewußtsein und die von ihm geschaffene Welt im Chaos versinkt. Denn der archaische Mensch erlebt das Fest als leibhaftige Rückkehr in eine mythisch-magische Ur- und Traumzeit, die er sich als vor und außerhalb der historischen Zeit befindlich vorstellt und die für ihn, hinter dieser verborgen, ewig vorhanden ist. Die Traumzeit aber, so Caillois, »ist der ideale Ort der Metamorphosen und Wunder. In ihr war noch nichts stabilisiert, noch keine Regel erlassen, noch keine Form festgelegt. Was seither unmöglich geworden ist, war damals machbar: Die Gegenstände bewegten sich von selbst, die Boote flogen durch die Luft, die Menschen verwandelten sich in Tiere und umgekehrt.« Dieses vorweltliche, außerzeitliche Chaos, fließend, ungestaltet und gesetzlos, ist das Reich grenzenloser schöpferischer Potentialität, ein Zustand reiner Fruchtbarkeit und Fülle. Die geordnete, eingezäunte, parzellierte Welt hingegen, in welcher der Mensch seit der Transformierung dieses Chaos in einen Kosmos lebt, ist der Zeit unterworfen; das heißt, der Preis für ihre Stabilität sind Vergänglichkeit, Erstarrung und Tod, vor denen die Ordnung selbst nicht gefeit ist. Um aber die Gefahr zu bannen, daß die das Leben in der Zeit, das profane Leben ermöglichenden Ordnung durch Erstarrung zur Feindin des Lebens wird, muß sie zyklisch in die unendliche Lebensfülle des Chaos zurückgeworfen werden, aus der sie einst hervorgegangen ist. Eben dies geschieht im Fest, das hinsichtlich der Ordnung eine Überschreitung, ein Exzeß ist. »Das Fest«, resümiert Caillois, »wird so im Raum und in der Zeit des Mythos gefeiert und erfüllt die Funktion, die reale Welt zu regenerieren.«
1976
Die Analogie von archaischem Fest und moderner Poesie liegt auf der Hand. Beide sind eine Funktion des Lebens. Gemeinsam ist ihnen ferner ein mythisch-magisches Weltverständnis, in welches das pragmatische Bewußtsein, Funktion des Überlebens, als etwas Relatives eingebettet ist. Das Fest in dem angedeuteten Sinne, so darf man hinzufügen, ist sogar Poesie: Auch in ihm wird die zerstückelte Ganzheit des Seins – Zeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit, Ordnung und Chaos usw. – wieder »eins und alles«. Und so wie in der Magie des Feierns zum Zweck des Heils (das heißt des Heil- oder Ganzseins) von Mensch und Welt die Gesetze der profanen Ordnung systematisch übertreten werden und die zeitliche Realität im vorzeitlich-zeitlosen Chaos aufgeht, ist umgekehrt die Poesie ein Exzeß, ein Überschreiten der Gesetze, Normen und Tabus des jeweiligen zivilisierten Bewußtseins und eine Rückkehr zu dessen wilden Ursprüngen, wobei der tiefere Sinn dieser Transgression auch hier in der Erneuerung der immer zu Verfestigung, Erstarrung und Tod tendierenden geistig-moralisch-gesellschaftlichen Ordnung liegt. Diesen engen Zusammenhang zwischen Poesie und bestimmten primitiven Riten scheinen übrigens schon die deutschen Frühromantiker – immer wieder kommt man auf sie zurück – geahnt zu haben; die Surrealisten haben mit Sicherheit um ihn gewußt. Für Friedrich Schlegel war »die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung (...) denn doch nur die des Chaos«, und als Aufgabe der Poesie bezeichnete er es, uns durch Aufhebung der Gesetze unseres profanen Bewußtseins wieder »in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen«. Für die Surrealisten war diese Natur das libidinöse Verlangen, und die Funktion der Poesie bestand nach ihrer Ansicht darin, die menschlichen Begierden gegen die »künstliche Ordnung der Ideen ... im anarchischen Zustand (zu) halten« (Breton).
Haben diese Überlegungen noch etwas mit Winkler und seiner Kunst zu tun? Ich denke, daran kann kein Zweifel bestehen. Es hat wenig Sinn, in bezug auf ihn, der »das Überschreiten von Türen (und) Mauern« nicht nur als eines seiner gestalterischen Elemente, sondern als Grundprinzip seiner künstlerischen Arbeit ansieht, mit dem Begriff »Poesie« zu operieren, wenn dies nicht in dessen weitestgehendem Verständnis geschieht. Wie das archaische Fest ist Winklers Bildwelt eine Beschwörung des Mythischen. Aber während der archaische Mensch noch ungebrochen und ganz selbstverständlich aus einem mythisch-ganzheitlichen Daseinsgefühl heraus lebt, das ihn das Wirkliche als eine »society of life« erleben läßt, steht der moderne Künstler als Kind einer Welt, die das Mythische aus ihrer Mitte verbannt hat und sich nur von Pseudo- und Ersatzmythen nährt, vor der Notwendigkeit, gegen den gewaltigen Widerstand dieser Welt einen neuen Mythos zu suchen. Das archaische Fest ist eine umgekehrte Kosmologie. Analog könnte man Winklers Kunst, wie Gisela Steinwachs es in bezug auf das Werk des surrealistischen Dichters Benjamin Péret getan hat, als »Chaogonie« bezeichnen – womit diese Kunst einer bemerkenswerten Forderung des aufgeklärten Aufklärers Theodor W. Adorno entspräche, der einmal erklärt hat: »Aufgabe der Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen« oder – mit Winklers Worten – »Löcher in die Logik stoßen«. Das ist eine im buchstäblichen Sinne vitale Aufgabe, denn in welchem Maße unsere Ordnung, unsere Realitätskonstruktion, unsere Weltansicht zu einem das Lebendige bedrohenden Dogma entartet ist, sehen wir, wohin wir auch blicken. Die auf diese Bedrohung reagierende romantisch-surrealistische Forderung nach »Entgrenzung« des Denkens und danach, geistig »das Weite (zu) suchen«, ist akuter denn je: Sie ist, sieht man die Dinge nicht krankhaft optimistisch, eine Frage von Leben und Tod. In diesem Punkt haben wir von der Weisheit der »Primitiven« alles zu lernen. Es geht darum, wie sie die Ordnung der »vernünftig denkenden Vernunft«, die »künstliche Ordnung (unserer) Ideen« von der schöpferischen Unvernunft her, die eine höhere Vernunft ist, zu unterminieren, um sie im Namen des Lebens offen und veränderbar zu halten. Aus dieser Sicht haben poetische Werke wie dasjenige Woldemar Winklers eine exemplarische Bedeutung. Denn auch »ihr Zweck ist subversiv: diese Realität zu zerstören, die eine wankende Zivilisation uns als die einzig wahre aufgezwungen hat« (Octavio Paz).
Publizist und Übersetzer, Köln, 1989/90
Nachbemerkung (2006):
Die in diesem Text behauptete Tatsache, Winklers Vorkriegswerk sei »nur in bescheidenen Überresten erhalten geblieben«, trifft nicht mehr ganz zu, seit Christoph Winkler, der Sohn des Malers, im Jahr 2000 in Dresden-Tschieren bei Entrümpelungsarbeiten völlig überraschend auf eine Vielzahl von Werken Winklers aus der Zeit vor 1945 stieß.