José Pierre
Winkler, an den Grenzen des Seins
ie nur ganz wenige Künstler in ferner Vergangenheit – vor allem Bosch, Grünewald, Blake – oder, uns zeitlich näher, einige andere, die auch nicht viel zahlreicher sind – Kubin, Klee, Wölfli, Oelze, Bellmer, Schultze, d'Orgeix – hat Woldemar Winkler das außergewöhnliche Privileg mitbekommen, uns an die Grenzen des Seins zu führen, in jene dunkle, unbestimmte Zone, worin in Gestalt des Phantasmas der uralte Übergang vom Anorganischen zum Organischen – und folglich von der Materie zum Geist – reaktualisiert wird.
Und wenn mir bei dem Versuch, mich über Winkler zu äußern, soviele Namen in den Sinn kommen, so bedeutet das ganz gewiß nicht, daß damit seine schöpferische Originalität herabgesetzt werden soll, sondern im Gegenteil, daß letztere, wie mir scheint, dank ihres breiten Spektrums ein Licht auf andere künstlerische Entwicklungswege wirft und sie deutlicher oder beredter macht. So lautete die erste Überschrift, die mir unwillkürlich in den Sinn kam, als ich mich hinsetzte, um die vorliegenden Zeilen zu schreiben: Walpurgisnacht des Rokoko. Wie mochte das gemeint sein?
Ganz offensichtlich hat dieser Titel mit einem komplexen Spiel von Widersprüchen zu tun, von denen sich die einen auf mythischer, die anderen auf formaler Ebene bewegen. Das Rokoko ist, wenn man so will, mit seinem dynamischen Formengewirr die lustvolle Entfaltung der aus der germanischen Mythologie hervorgegangenen gotischen Zerrissenheit. Aber wie könnte eine solche Entfaltung die Götterdämmerung ausdrücken, wenn nicht in Form einer euphorischen Agonie? Ich muß anfügen, daß das Winklersche Werk, das mich am direktesten auf die genannte Überschrift gebracht hat, die Arbeit Wenn die Nacht kommt, still wie ein Gebet (1978) ist.
Spontan empfand ich nämlich Woldemar Winklers künstlerisches Universum als Schauplatz der widersprüchlichen – vielleicht sogar dialektischen – Feier des Aufkeimens und Erblühens neuer Formen aus dem Verfall und der Verwesung alter Formen. Aber die Originalität der Konstellation rührt daher, daß sich diese Apokalypse fröhlich – inmitten von Trompetengeschmetter und Feuerwerk – abspielt, während die alten Götter den neuen ihren Platz überlassen.
Und vielleicht ist es diese Euphorie der Metamorphosen und der Rückkehr ins Chaos – das heißt zum Jungbrunnen des Prinzips der ewigen Erneuerung –, durch welche sich Woldemar Winkler am meisten von seinen Vorgängern unterscheidet.
Paris, 19. Mai 1992

Richard Anders
Halte die Augen geschlossen, wenn du mehr sehen willst
Zu höchster Bewußtheit erwachte Bilder fließen von der Zungenspitze, verlieren sich, milchig wie Sperma, im Sonntagsnachmittagsblau, das zwar zurückweicht, doch an keiner Stelle auch nur den winzigsten Spalt öffnet. Weiter unten machen die Gnome aus ihren breiten Fressen lange, in Spitzen auslaufende Gesichter, schnüren ihre nun überflüssigen Zungen zu rosa Brüsten oder ziehen sie zu unendlich langen Fäden auseinander, die so dünn sind, daß Spinnwebfäden sich dagegen wie Stricke ausnehmen. Jetzt merken es auch die Ignoranten, daß hier nicht auf Teufel komm raus gesponnen wird (der möge im Detail steckenbleiben), sondern daß der Maler Woldemar Winkler in seiner Zaubergrotte am Werk ist (insgesamt neunzig Jahre, die Äonen im kosmischen Mutterleib nicht miteingerechnet). Dieser Hieronymus hat das löwenmäulige, ständig Farben fressende Licht soweit gezähmt, daß es nicht lediglich jeden Morgen am östlichen Horizont seinen Zahn erigiert, um die jungfräuliche Dunkelheit aufzureißen, sondern, häuslich geworden, den juckenden Pelz an des Malers Leinwänden scheuert, bis Ziegelrot, Altrosa und Pfaffenlila aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen. »Mach' deinem Panzer Löcher!« ruft er uns zu, und kaum sind wir seiner Weisung gefolgt, pfeift Winklers Bildersturm durch unsere muffigen Keller, scheucht die Asseln auf, verwandelt sie - zwar nicht in Punktsiege, die ihren schwitzenden Sportlern den Rücken kehren, auch nicht in beliebig purzelnde Gedankenstriche – – –, doch in jene Farbpartikel, die sich im spiegellosen Kaleidoskop unseres Kopfes zu nie gesehenen Bildern anordnen, wenn wir die Augen geschlossen halten.
Schriftsteller, Berlin 1992 mehr

Jean-Marc Debenedetti
Für Woldemar Winkler
Einsam im Raum, verloren in der Zeit webt der Mensch Sinn, um die unsägliche Stille mit Worten zu füllen. Darin gründet das Spiel des Dichters oder des Malers, deren Kunst ein Plädoyer für das Absolute ist. Er geht bergan, die Augen auf den Boden geheftet, um die den Pfad bedeckenden rastlosen Formen, die blassen Schriftzüge der Flechten auf dem Sandstein, den Flug der Dohlen und Lämmergeier zu lesen, die mit ihm sprechen, indem sie die Luft mit ihrem Traum aus Federn paraphieren. Er versteht im trockenen Gestein die Silhouette der großen tellurischen Wesen zu sehen, Erinnerungen an Sternennebel, die in unseren uralten Träumen ihre Spuren hinterlassen haben.
Hätte er es gestern gewollt, so hätte er in den Eingeweiden des Opfertiers, Büffel, Auerochse oder Schlangenadler, die Arkana der Zeit, die für ihn allein geflüstert wurden und die er allein hört, begreift und spürt, entziffern können, um sie der graugrünen Menge der übrigen Menschen als Nahrung zu übergeben. Wollte er es, so könnte er morgen genausogut die Rätsel der schwarzen Löcher lösen, die sich, heiß oder kalt, unterm Bett der Sterne verstecken, oder die der Geburt des Weltalls, das nie einem über das Wasser wandelnden Gott noch ihm selbst entsprungen ist, sondern der räuberischen Unendlichkeit, deren Energie die allerersten Eier gelegt hat, die aus einem so leichten Stoff bestanden, daß er wie Ätherwellen war. So liebkost der Dichter oder der Maler auf der Suche nach dem allerersten Lichtschein mit seinem Spektrum den Rücken der Wildbäche oder schickt uns zur heliakischen Maske der Gestirne, die bereits Lichtjahre vor der irdischen Zeit entstanden und vergangen sind. Er zeigt, daß er wissend ist, indem er seine Wörter in die Leere graviert, das Chaos der Phosphene zum Bergkristall ordnet, um das vielschichtige Spiel der Materie, die sich vom Trägen zum Belebten gestaltet, noch einmal zu spielen.
Woldemar Winkler versteht, auf den Bretterzäunen die Maserungen zu lesen, die ein Bestiarium indiskreter Geschichten, schändliche Familienszenen und Erinnerungen von Wesen erzählen, die er als durchsichtig wahrnimmt und deren Struktur mit derjenigen der bewegungslosen Photonen verwandt ist; er versteht, im Strandgut, das die Brandung freilegt, in den Knochen, die in den Gletschern stecken, zu erkennen, wo der Staub von toten Gestirnen und nie gesehene Dinge eines zu erfindenden Rituals sich verbergen, welches das des Schauens ist.
Schriftsteller und bildender Künstler, Paris, Juli 1992

Abbildungen:
Oben und Mitte: Beispiele aus »Unser ABC«, das epileptische und lernbehinderte Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren unter Anleitung von Woldemar Winkler in einem Zeitraum von ca. 4 Monaten gestalteten.
Übersetzung aus dem Französischen und Zusammenstellung der Texte, die der Monographie »Woldemar Winkler – die Gütersloher Zeit« entnommen wurden, von Heribert Becker