Aufzeichnungen
Wer möchte dem bildenden Künstler, der das Wort ergreift, nicht das Goethe-Zitat entgegenhalten: »Schaffe Künstler, rede nicht!« Denn nur durch das Werk und seine Aussage ist er eigentlich verständlich, das Wort aber hat seine eigene Kraft und kommt erst in der Dichtung zu seiner besonderen Bedeutung, so daß Spitzweg einmal reimt: »Das Schönste, was der Dichter sagt, man kann's mit Farben nicht malen, das Schönste, was der Maler malt, mit Worten man nicht lallen.« Das ist richtig und sagt etwas über den unterschiedlichen spezifischen Gehalt der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Dennoch ist zu allen Zeiten auch den bildenden Künstlern der Mund übergelaufen, wenn ihnen das Herz voll war. Wer denkt dabei nicht an die Briefe Vincent van Goghs, an die Aufzeichnungen Delacroix', an diejenigen Corinths über die Malerei und nicht zuletzt an Leonardo da Vincis Gedanken über die Kunst. Oder an Kandinskys Über das Geistige in der Kunst, um nur einige Beispiele zu nennen. Mehr oder weniger sind solche Äußerungen durch das Wort dennoch wertvolle Wegweiser und Schlüssel zum leichteren Eindringen in geistige Konstruktionen, technische Handhabungen und historische Gegebenheiten. Zur eigentlichen Erschließung der jeweiligen Zaubergärten der Kunst jedoch bedarf es weniger des Verstandes als vielmehr des Herzens, der Augen und der Sinne.

Sicher erscheint uns das als Binsenweisheit, kann aber in einer Zeit der Unterbewertung allen Gefühls, da die Welt auf Konstruktion, Planung und vordergründige Nützlichkeit abgestellt ist, gar nicht genug in Erinnerung gerufen werden. Die totale Zivilisation unserer Welt, die noch immer weiter fortschreitet und selbst in die verstecktesten Winkel der Welt vordringt, ja sich in Zukunft sogar über unseren Planeten hinaus auszubreiten scheint, fordert auf der anderen Seite ein Äquivalent, das den Menschen wieder zum Individuum macht. Gerade seitens der Jugend erleben wir das starke Bestreben, dem Materiellen zu entfliehen und zu Erlebniserweiterungen zu gelangen – so sehr, daß sie in den Rauschzustand der Drogen gerät.
Dabei ist das Verlangen nach einer Erweiterung der Erlebnisfähigkeit an sich durchaus berechtigt. Die visuelle und akustische Umweltverschmutzung ist längst zu einer seelischen Belastung geworden. Das dringende Bedürfnis nach Versenkung und Verinnerlichung ist verständlich. Die ernsthafte Beschäftigung mit Kunst wird in Zukunft eine herausragende und wachsende Bedeutung haben und in die unbewußten Bereiche der Gefühle führen. Die Kunst wird zum täglichen Brot gehören und kaum noch als Luxusgut Bevorrechtigter zu betrachten sein. Die Umschichtung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse durch die beiden Weltkriege, die die Interessenpyramide nach unten hin immer breiter werden ließ, trägt zusätzlich dazu bei. Der Hunger nach dem Imaginären und nicht Meßbaren, dem Unergründlichen und dem Geheimnis wird größer und die Kunst damit zu einem echten Bedürfnis.
Da die Pforten und Zugänge zur Kunst nicht selten wie mit Geheimschlüsseln verriegelt zu sein scheinen, ist es verständlich, daß der Wunsch besteht, die Künstler möchten durch eine verbale Interpretation ihre Werke erschließen helfen. Wie sehr sich aber die Künstler selbst beim Nachdenken über das Medium Kunst in ihren eigenen Irrgärten verlaufen und wie unterschiedlich sich das als vermeintliche Wahrheit Erkannte zeigt, bezeugen die gegensätzlichen Äußerungen selbst bedeutendster Künstler in Vergangenheit und Gegenwart. Woraus zu schließen ist, als wie vielschichtig sich die Wahrheit zeigt, die nur aus den Maßstäben abzulesen ist, die dem jeweiligen Werk eigen sind. Ein unerklärlicher Rest wird dabei selbst für den Künstler, der stets die Funktion des Mediums hat, immer ein Geheimnis bleiben.
Es ist unverständlich und beschämend zu sehen, wo die sogenannten Gebildeten ihre Augen haben. Leider gilt das insbesondere für die Deutschen, die für alles eine Erklärung brauchen und nicht begreifen ollen, daß Kunst nicht vom Intellekt her erfaßt werden kann. Daß Kunst sich aus sich selbst erklärt, wozu freilich wache Augen und Sinne nötig sind.

Bombardierung 1945
Dresden, meine Heimatstadt, hatte mit seiner Ausstrahlung schon immer eine andere Wesensart als viele andere Städte. Die kleinwüchsigen Sachsen, eine Mischung aus slawischen und germanischen Rassen, haben eine entsprechend gefühlvolle Seele, die sich vom preußischen Charakter wesentlich abhebt. Es war immer ein armes, gedemütigtes Knechtsvolk. Seine versteckte Seele, die man suchen muß, tut sich zuweilen in der Kunst des Kleinen besonders hervor. Hirten- und Bergmannskunst, Bauernmalerei, später die Meißener Porzellanmalerei. Vielseitig und verästelt im Detail, im Kleinen, im Abseitigen, im Verträumten, im Vertieften. So spricht man gern von der kleinen sächsischen Seele, was nicht abwertend zu verstehen ist. Die Fähigkeit, Märchen zu erzählen wird immer seltener. Die Faszination kindlicher Einbildungskraft und der Glaube an sie schwinden in einer Zeit aufgeklärter« Geistigkeit. Sie tauchen nur noch bei einzelnen auf, die infolge ihrer Naivität von der Norm abzuweichen verstehen, also ab-norm sind.
Daß wir im letzten Grunde nicht wissen, was Kunst ist, ist bekannt. Picasso hat die immer wieder an die Künstler gestellte Frage einmal so beantwortet: »Sie erwarten, daß ich Ihnen sage, was Kunst ist? Daß ich definiere, was Kunst ist? Ich sage Ihnen, wenn ich es wüßte, würde ich es für mich behalten.« Vielleicht sollte man gewisse Oberlehrer fragen. Der liebe Gott weiß zwar alles, aber die Oberlehrer wissen alles besser. Verstanden wird immer nur das, was genügend vorgekaut ist. Sobald aber neue Erfindungen auftauchen, ist Ablehnung weitaus eher zur Hand als Anerkennung. Nun, wenn man schon keine Auskunft darüber erhält, was Kunst ist, so fragt man: »Wie machen Sie das?« Mit dieser Frage werden die Künstler wie die Köche traktiert. Und doch weiß jeder, daß Rezepte und Gebrauchsanweisungen recht unzureichende Hilfsmittel sind. Wie könnte es sonst so viele schlechte Bilder geben? Jeder weiß auch, daß es mit der schöpferischen Kunst seine eigene Bewandtnis hat und daß letztlich unerklärlich bleibt, was sie in ihrer Besonderheit ausmacht. Trotz alledem ist die Neugier verständlich, der Nachahmungstrieb jedoch gefährlich. Zu allen Zeiten hat es Nachschaffende, Epigonen gegeben, die die Erfindungen der großen Neuerer auswalzten und ganze Stilepochen schufen – das geht so lange, bis die allgemeine Stilauslaugung durch neue schöpferische Kräfte verdrängt wird.
Wenn man mir die Frage stellt: »Wie machen Sie das?«, bin ich um Erklärungen recht verlegen. Eigentlich müßte ich sagen: »Ich weiß es nicht.« Erst die gestellte Frage läßt mich nach- oder zurückdenken und meine Arbeit analysierend abspulen. Nun, in jedem Falle ist es erst einmal das Material, was mir zufällt und was durch sein Zusammentreffen mit anderem Spannungen und Veränderungen hervorbringt. Die so angeregte Phantasie setzt meine Hände in Bewegung. Ergänzungen, Verschleierungen, Vermittlungen bieten sich an und werden mit den Mitteln vieler technischer Manipulationen erzeugt. Das Spiel mit dem Handwerklichen und das Erkennen der materiellen Wirkungen läßt den Geist Funken schlagen und entrückt mich in diesen glücklichen Augenblicken in eine andere Welt, und dabei sage ich manches, was ich nicht zu erklären vermag. Wenn ich in diesem Zusammenhang im übertragenen Sinne sage: "Alles im Leben und Werken ist Zufall, aber es fällt nicht jedem zu", so will ich damit ausdrücken, daß einem jeden anderes zufällt und zufallen muß, wenn das Werk eine eigene Bedeutung haben soll. Sicher ist es gleichgültig, welches Werkzeug und welches Material uns zuweilen in die Hand fällt. Wichtig ist nur, daß es unsere Phantasie beflügelt und geeignet ist, uns Dinge zu entlocken, die sich mit Worten nicht sagen lassen. Dabei spielt der Zufall nicht selten eine große Rolle.
Als ich noch ein kleiner Junge war, waren es oft Heidelbeersaft und gekaute Birnenstiele, mit denen ich auf alte Einkaufstüten malte. Meist riefen dann die farbigen, strukturellen Effekte allerlei Vorstellungen an die gedankliche Oberfläche. Als Kind war ich oft einsam und habe viel geträumt. Ich glaube, daß die in frühester Kindheit empfangenen Eindrücke das eigentliche Material für das spätere Schaffen eines Malers sind. Die Erscheinungen unserer Umgebung, die wir noch nicht von ihrem Zweck, von ihrem Sinn und Gebrauch her verstehen, müssen uns ganz besonders merkwürdig und märchenhaft erscheinen. Solche Bilder dringen tief in den Seelengrund und tauchen später traumhaft verändert wieder auf.
Um zu den letzten Wahrheiten und Erfindungen zu gelangen, die sich am Schluß als sehr einfach erweisen, bedarf es oft eines ganzen Lebens. Das bestätigt sich ganz besonders in der künstlerischen Arbeit – oft in der widersprüchlichsten Weise. So bewahrheitet sich im übertragenen Sinne auch hier das Bibelwort: »Wenn ihr werdet wie die Kinder, so werdet ihr ins Himmelreich gelangen.« Warum zum Beispiel ein Picasso ein ganzes Leben lang gerungen hat, nämlich zu einfachen, lapidaren Ausdrucksformen zu kommen, das haben Kinder, naive Hirten und sogenannte Primitive a priori. Den Seinen gibt's der Herr eben im Schlaf.
Ein bescheidener Anfang ohne großes Wollen ist es zumeist, der mich zur Gestaltung treibt. Ach, nur ein kleines Blättchen soll es werden! Irgendein seltsames Material oder auch nur ein Fleck öffnen ganz von selbst wie Zauberschlüssel Räume, in denen Gesichte und Geschichten üppig wuchern, die gar nicht genug Platz zu haben scheinen und hier und da ihre Füße in die Tür, sprich über den Rahmen stellen. Eigentlich wollte ich – so ist es meistens – nur eine kleine Suppe kochen, doch da habe ich mich mit meinem Kochlöffel, sprich Pinsel verirrt, verloren, vergessen, bin ausgebrochen, habe an- und ausgebaut, bin über den Rand gekrochen. Plötzlich erwache ich und sehe: es ist ein ganzes Menü geworden. Es ist fertig – schmecke es, wem es wolle; ich hab's gebraut, verschmolzen, destilliert und über den Rand gekocht.

entstandenen Selbstporträt seines Vaters
Das Überfließen, das Überschreiten von Türen, Mauern und Rahmenöffnungen ist nicht nur eines meiner formalen, gestalterischen Elemente; es steht gleichsam als Symbol und Mittel, Träumen aus unbekannten Fernen etwas von ihren unaussprechlichen Geheimnissen zu entlocken, die man mit den Augen flüstern und mit den Ohren sehen kann. Ich glaube, wer wirklich etwas zu sagen hat, der winkt noch nach dem Tod mit der Hand aus dem Sarg. Mit Deutungen, die die Schwelle der Zeit übersteigen wie Bilder, die aus dem Rahmen springen. Wie beträchtlich die bildhaften Gestaltungen unserer Tage in ihrer äußeren Erscheinung auch voneinander abweichen, für ihre Wertung ist das gleichgültig. Das beweisen mit ihren Vielfältigkeiten die Jahrhunderte der Zeugungsgeschichte des Geistes.
Wichtig dagegen erscheint mir, inwieweit es jeweils möglich ist, einen unausgefahrenen Weg zu finden, der Entdeckungen verspricht und zu einem Ziel führt, wo es gelingt, eine Tür aufzustoßen und etwas offenbar werden zu lassen. Ich suche nicht nach ästhetischen Gesetzen. Es liegt mir nicht daran, Kunst oder schöne Bilder zu machen. Das Atmen in unserer Welt, die sich mit ihren besonderen Eigenheiten ständig bedrohlicher formiert, zwingt mich zu immer neuen Reaktionen in meiner Sprache. Die Versuche, mit allen Fasern meines Seins in einer intuitiven Wachheit in Farbe, Form und Material zu kriechen, die Dinge nicht nur an der Oberfläche zu behandeln, sondern sie zu durchdringen, zu durchweichen, zu durchstechen und dabei Löcher in die Logik zu stossen, bringen mich zu schöpferischer Ekstase. So mache ich die Stofflichkeit zu meinem Hause, dem ich mein Wesen, meinen Willen einimpfe, so bekomme ich ein geistiges Programm, das zur Form wird. Mitunter gelingt es mir dann, aus einer verzauberten Wirklichkeit heraus zu flüstern. Die meisten Bilder unserer Zeit kommen mir vor wie ungekneteter Teig. Wer sich mit meinen Bildern einläßt, dürfte gezwungen sein, durch mein Fenster zu fliegen und einen »Trip« in das Labyrinth einer neuen Landschaft zu machen. So wird er sich, aus dem Bedürfnis unserer Zeit nach Mystischem heraus, der harten Realität mit ihren Ängsten bewußt werden und ihr durch schöpferischen Nachvollzug zugleich in einem Rausch entfliehen.
1982
Wenn man die Unvorsichtigkeit begangen hat, sich mit seinem Leben dem neunzigsten Jahr zu nähern, bleibt es nicht aus, daß man den verschiedensten Empfindungen begegnet, die die Vergangenheit spiegeln. Auch wenn der Spiegel die Asche der Jahre zeigt, kann doch das innere Auge im Alter zuweilen das zerstreute Licht der Erinnerung sammeln und wie in einem Brennglas so bündeln, daß alle Geschehnisse in besonderer Klarheit erscheinen, so als seien sie Gegenwart.
Paradoxerweise wird oft gerade trotz des Nebels mancherlei deutlich. Dabei wächst die Fähigkeit, das Morgen, das Gestern und das Heute in Gleichzeitigkeit zu sehen. Wahrheit und Traum scheinen zu einer neuen Wirklichkeit zu verschmelzen. So sind vom Betrachter Erlebnisse aufzufassen, die in meiner bildnerischen Sprache ihren Niederschlag finden. Doch die Wandelbarkeit der Wahrheit durch die Zeit, der Wahrheit, die heute nicht mehr dieselbe sein kann, die sie gestern war, verändert den künstlerischen Niederschlag in unterschiedlicher Weise.
Niemand vermag seine Vergangenheit vorauszusagen. Oft scheint es aber, als gäbe es eine zweite Welt, worin der Uhrzeiger rückwärts läuft, sodaß seltsame Erscheinungen zusammentreffen und Überschneidungen entstehen, welche die Gegenwart zur Zukunft machen und die Vergangenheit zur Gegenwart; ja, daß der Begriff »Zeit« wie aufgehoben ist, weil sich der Uhrzeiger nach beiden Seiten zu drehen scheint.
Dabei entstehen zugleich die sonderbarsten Lücken, welche die Wahrheit trüben und alle Realitäten zu Halbwahrheiten werden lassen. Müssen sich diese Lücken da nicht ganz von selbst mit Lügen, sprich mit Phantasie schließen – und die Künstler diese Löcher freizügig mit schöpferischen Samen füllen, um neue Kostbarkeiten entstehen zu lassen, die sich nur durch Ergriffenheit begreifen lassen?

Künstler, die ihrer Lust und Laune freien Lauf lassen, die sich den Wind zum Gerüst machen, die das scheinbare Nichts überzeugt aufblasen, so daß sie ihrem Lug Leben verleihen, an das auch sie selbst zu glauben vermögen; dieser Glaube, der sich bei unsicherem Pendelschlag zwischen Instinkt und Verstand zur Genialität steigern kann. Bei meinen schöpferischen Prozessen, die sich oft lange vorher durch eine eigentümliche Unruhe, durch das Rauschen meiner Sinne und meines Blutes ankündigen, waren und sind häufig eine schreckliche Musik und ihre Pausenzeichen Messerstiche, die mich zuweilen fast verbluten lassen.
Der Duft von Blumen und derjenige der Frauen ist für mich naturgemäß immer erregend gewesen und hat schöpferische Kräfte belebt – hat dem Künstlerischen meist seine Verschlossenheit geöffnet: Kunst widersetzt sich nämlich, gibt sich wie schöne Frauen nur langsam preis. Nur mit Geduld lassen sich ihre Reize und ihre tiefen Werte entkernen. Dann aber entdeckt man immer Geheimnisse, die sie dem Suchenden schenken wollen. Sichtbares spricht immer zugleich von Unsichtbarem. Zu dieser Erkenntnis bedarf es freilich bisweilen großer Sprünge über die Realität der Gegenwart hinweg, was oft zerquälte Skrupel und todesfürchtige, fromme Verzweiflung einschließt.
Die imaginäre Muschel der Natur läßt uns das flüsternde Rauschen der verführerischen Dämonen hören, die ununterbrochen Nachrichten aus dem Verborgenen senden und zugleich formbildende Kräfte schaffen: Kernenthüllungen, die die Sinnenwelt und ihre Bedeutung erkennen lassen, die etwas von der Rätselhaftigkeit unserer Welt und damit von dem nicht beschreibbaren Unsichtbaren zeigen, von Träumen, die ihre Kraft aus dem Schweigen beziehen, von Träumen, die keine Worte Fleisch werden lassen. Das sind seltsame Kostbarkeiten, deren wir meistens durch einmalige Empfindungen teilhaftig werden, Erinnerungen, die wie verkapselte Einschlüsse in unsere Seele gesunken sind, die etwas von dem Reichtum dieser Welt in die Ewigkeit hinüberzutragen vermögen, aus der sie gleichzeitig zu kommen scheinen. Vielleicht ist die Kunst das einzige Medium, das diesen Glanz haltbar macht, diesen Glanz, der sich an Dingen und an Menschen entzündet und lediglich an der Wiederholung und an der Routine stirbt. Das aber sind die gleichen Gründe, aus denen auch die Liebe und alle anderen menschlichen Bindungen zerbrechen.

Sparkasse Gütersloh, 1994
Ehepaar Winkler mit Tochter Friederike, Sparkassendirektor
Dieter Winkler, Schwiegertochter Jutta und Sohn Christoph
Blumen und Frauen - wo ist da ein Unterschied? Ihre Natur und der verführerische Duft ihrer geheimen, fruchtbaren Kerne läßt nicht nur Auge und Nase erzittern. Wie sollte man sich schämen, ihren beglückenden Ausstrahlungen immer wieder aufs neue zu erliegen, sich immer wieder aufs neue schöpferisch zu ergießen: Der begehrliche Reiz unserer fleischlichen Existenz ist das Mittel, über die Sinnlichkeit der Sinne zu Möglichkeiten zu gelangen, dergestalt aktivierte Kräfte zu künstlerischen Schöpfungen zu transponieren und uns wiederzufinden in neuen Geburten. Doch bei aller schönen Lüsternheit ist das Verblühen gewiß, und die Schatten des Todes sind gegenwärtig. Dabei ist ungewöhnlicher Kummer nicht selten; aber wer ungewöhnliche Wege geht, muß ihn ertragen.
Frauen, die es mit ihren oft unkontrollierbaren Leidenschaften verstehen, die Luft zum Knistern zu bringen, verändern den Lebensstil der Männer gewaltig. Sie waren es – und sind es naturgemäß immer noch –, die den Baum der Liebe für Leib und Seele fruchtbar machen. Sie sind auch das Medium, das imstande ist, den handfesten Pfahl der allgemeinen Sinnlichkeit unserer Welt transponierend in imaginäre Bereiche zu pflanzen, die künstlerische Aussagen zu gebären vermögen und das männliche Element beflügeln. Die Frauenemanzipation unserer Tage zeigt darüber hinaus aber auch immer deutlicher, wie schöpferische weibliche Selbstbefruchtungen entstehen.
Die Welt und nicht zuletzt die Frauen, die Formen und die Farben lassen mich immer wieder von neuem erzittern. Doch am Ende bleibe ich stets hungrig und auf der Suche. Ich suche die Verbindung von Wirklichkeit und Irritation. Dabei gibt es Spannungen, die nicht erklärbar sind. Aber wozu auch erklären? Suchen wir denn immer nur um des Wissens willen? Sollten die Künstler nicht in viel stärkerer Weise ohne Worte sprechen? Die Sprache des Schweigens besitzt größere Kraft. Sicher braucht es viel Mut, um in ungewisse Dunkelheiten zu steigen. Immer, so scheint mir, geht es um den Kern – das Äußere ist überflüssig. Federn sind eben noch lange nicht Entenfleisch. Gegenständlichkeit und äußerliche Erkennbarkeit haben in der Malerei nur dann ihre Berechtigung, wenn sie als Wegweiser notwendig sind und nicht zur bloßen Illustration werden. Jedenfalls scheint es mir nötig zu sein, die sinnlichen Triebkräfte zu erkennen, die es ermöglichen, seltene Blumen erblühen zu lassen, die unsterblich sind.

USA, 1977
Skizze der Gesamtsituation und einzelne Skulpturen
Wenn ein schöpferischer Mensch seine Werke von Nebenabsichten frei zu halten vermag und nur seiner ursprünglichen Kraft folgt, dann werden diese Werke wie selbstverständliche Schöpfungen der Natur mit gleichzeitiger ahnender Erinnerung an die Zukunft erscheinen. Dazu bedarf es immer eines vollen, keine Gefahr scheuenden Einsatzes. Die Natur aber, die unsere eigene Natur umgibt, ist unsentimental, grenzenlos, ohne Scham wie die Unschuld und wie sie voller Grausamkeit. Daher dürfen Kunstwerke etwas von der »Stinkigkeit« des Lebens ausstrahlen, dürfen »aasig« sein. Auch das Schreckliche ist wahr. Eine solche Erfahrung, verdichtet und vertieft in uns aufgenommen, wird unsere Hervorbringungen nicht zu billigen, oberflächlichen Dekorationsstücken werden lassen. Bei genauem Hinsehen ist man erstaunt, was sich in den dunklen Abstellkammern der tiefen Schichten unserer Psyche alles entdecken und erkennen läßt und was schließlich die Kunst und das Leben zum Knistern bringt. Der unwiderstehliche Taumel der Sehnsucht nach dem Unbegreiflichen macht mittels der Kunst mancherlei Umrisse unseres Seins sichtbar – eine Welt, die auch etwas von dem Schauder des Begriffs »Ewigkeit« spürbar werden läßt und die Gefühle aus dem Alltäglichen heraus in andere Bereiche des Wirklichen entführt. Er macht diese Unbegreiflichkeit so bewußt, daß es mich manchmal vor solchem Erschrecken fürchten läßt.
Man kommt, vor allem im Alter, um gewisse Herausforderungen nicht herum, denen man - mit Vorahnungen, mit Schaudern, aber auch mit Hoffnungen – notwendigerweise begegnet. Das Ungewöhnliche aus dem Gewöhnlichen zu destillieren, ist immer schon Aufgabe der Künstler gewesen. Dabei kann man nicht an der seltsamen Schönheit und faszinierenden Magie der abstoßenden Dinge vorbeigehen und entdeckt so oft die perverse Schönheit des Häßlichen. Bei solchen Gefühlen, in Ruhe und Zurückgezogenheit, beginnt die Stille, geschwätzig zu werden, fängt an, organische Knoten der inneren Vorstellung zu knüpfen, treibt Blüten zu exaltierten Schattenrissen der Leidenschaft. Mit ihren Wunschträumen verwandelt sie die Galle des Daseins in goldenen Honigseim und baut dem Glauben und der Kunst ein festes Haus.
Dabei spüre ich zuweilen auf dem unklaren Grund meines Wesens etwas auf, das mir sagt, nichts in dieser Welt sei bedeutungslos, vor allem nicht das Leiden, das, wenn es mit Demut ertragen wird, wie mit einem Goldschatz belohnt werden kann, das schöpferische Kräfte wachruft und uns wieder mit Gott und den Urkräften vereint.

Iowa/USA 1977
Als Künstler, meine ich, hat man die Verpflichtung, möglichst tief in die Randbezirke und Abgründe des menschlichen Seins vorzudringen, um seine künstlerischen Hervorbringungen mit der Rätselhaftigkeit des Unbegreifbaren aufzuladen und zu bereichern. Dazu ist wohl eine penetrante Neugier auf alles Menschliche, ja Allzumenschliche notwendig, eine Neugier, die an gesteigerte, visionäre Gestaltungskräfte heranführt. Durch Abgezogenheit von der äußeren Welt, oft unter natürlichem Zwang, etwa durch Taubheit (Goya, Beethoven), kann die innere Schau erhöhte Bedeutung gewinnen. Oft macht das Widersprüchliche der künstlerischen Aussage, das die variable Breite ergibt, die tiefe Dramatik der gequälten Künstlerseelen mit all ihren Zweifeln offenbar. Man denke an Picasso, der ständig wechselnde, nicht selten gegensätzliche Ausgangspunkte für seine Arbeit hatte, stets in der Hoffnung auf befreiende Möglichkeiten und darauf, den Lichtschein eines nie gesehenen Glanzes zu erheischen.

2001
Ich bin mir im klaren darüber, inwieweit die Kunst zu allen Zeiten auch eine Sache für hier und heute war und ist, Brot für den Alltag, etwas, das nicht sentimental in den Wolken schwebt, bevor es sich dann als Ewigkeitswert erweist und Museumspatina ansetzt. Sie bietet sich nie als bloßer ästhetischer Leckerbissen für Bevorrechtigte dar, denn ihr konkreter Gehalt ist aus tiefen Gefühlen oder tiefem Glauben geboren. Sie muß auch die geistigseelischen Kräfte besitzen, welche die Zukunft braucht. Der Wert und die Gültigkeit der bildnerischen Objekte beziehen ihre überzeugende Wahrheit aus der visuellen Erfahrung, die nicht unbedingt an die »Ähnlichkeit«, zum Beispiel eines Porträts, gebunden ist; man sollte eben von einem Bild nicht ein Abbild erwarten, sondern ein Gebild, das noch ein Geheimnis birgt und die Augen staunen läßt.
1987/88
Der Text »Aufzeichnungen 1«, hier behutsam redigiert, besteht aus Abschnitten des Beitrags, den Winkler 1982 für den Katalog seiner Bochumer Ausstellung schrieb.
»Aufzeichnungen 2« ist die teilweise Transkription von Tonbandinterviews, die Frieder Schellhase 1987 und 1988 mit Winkler führte.