Peter Spielmann
Die Bildwelt des Woldemar Winkler

Das Werk Woldemar Winklers kann man als gemalte, gezeichnete, gestaltete Poesie bezeichnen. Die Imagination ist für ihn Ausgangspunkt, Inhalt und Wirkung. Jede gefundene und jede erdachte Form verwandelt Winkler in Bilder, in Gleichnisse und Geheimnisse. Ich nannte ihn seinerzeit einen Finder, der Erfinder ist, einen Handwerker, der Zauberer ist, einen Spieler, der Schauspieler ist. Seine Erfindungen jedoch haben keinen Sinn, sei es einen poetischen, seine Zaubereien ermöglichen das handwerklich Unmögliche, seine Schauspielereien sind Träume.

Woldemar Winkler sprengt nicht die Grenzen, er öffnet sie, schafft Verbindungen, baut Brücken. Goldene Brücken aus der wirklichen Welt in die Welt des Traumes machen den Übergang kaum merkbar. Er überschreitet Grenzen zwischen Fläche und Raum, zwischen Zeichnung, Malerei und Bildhauerei. Übergänge zwischen dem Ungegenständlichen und Gegenständlichen erweitern die Möglichkeiten des Ausdrucks. Die Prinzipien des Konstruktiven, die am Anfang seines schöpferischen Weges standen, gaben seinen Träumereien Aspekte der Realität. Die Metapher gab dafür der Konstruktion einen surrealen Sinn. Wenn Karel Teige im Kubismus die Kunst sah, die die Malerei auf den Weg der Poesie gebracht hat, so können wir in Winklers Werk ähnliche Wurzeln entdecken. Diese Genealogie zeigt, daß Winklers Imagination nicht nur aus den Quellen des Unterbewußten genährt wird. Das Wissen um die Wunder des Lebens und die Geheimnisse der Welt wie auch die Erkenntnisse aus den Werken der Kunst steigern seine Fähigkeit zu zaubern. Die übergroße Sensibilität der Wahrnehmung gibt Winkler die Fähigkeit der Vorausahnung und Voraussehung. Ich möchte jetzt nicht die Peripetien der Entwicklung der Formen nachvollziehen, um sie zu ordnen und zu erklären. Das tun in diesem Buch andere, die berufener sind, da sie den Weg genauer verfolgen konnten. Ich versuche eher, mir als faszinierter Zuschauer Zusammenhänge bewußt zu machen. Winklers Werk ist durch viele Fäden verbunden mit der Tradition, mit zeitgenössischen Strömungen, es lebt aus dem Geschichtsbewußtsein der eigenen Identität genau wie aus dem Zeitgeist. Das Wuchernd-Wachsende, das alles zu umfassen versucht, erinnert stark an das barocke Prinzip des Gesamtkunstwerkes, das sich im Raum – wie in der Zeit zu behaupten versucht, den Himmel mit der Erde vereint, Gott in seiner Menschlichkeit und den Menschen in der Spannung zwischen Geburt und Tod begreift. Das Sinnliche und Erotische ist hier nicht im Widerspruch zum Geistigen und Moralischen. Das Organische unterstützt das Konstruktive und umgekehrt, das ist ein Grundsatz der Natur. Die Welt der Kunst Winklers versetzt uns in Staunen und trotzdem fühlen wir uns in ihr vertraut und zuhause. Sie behält immer das menschliche Maß; in ihren Dimensionen, in der Tiefe der Emotionen und in der Stärke des Ausdrucks. Winkler arbeitet mit Formen und Gegenständen, die die menschliche Hand erzeugt und geprägt hat und die die menschliche Phantasie erfunden hat.

Er übernimmt oft Formen und Gegenstände direkt aus der Natur.Beiden gibt er andere Inhalte, er verwandelt sie wie mit einem Zauberstab. Je länger ich mich mit Winkler befasse, desto mehr glaube ich, daß seine Zauberei ein bewußter Vorgang ist. Der Künstler nicht als ausführendes Instrument eines Diktats des Unterbewußtseins oder anderer irrealer Strömungen, sondern ein wissendes, weises Wesen, das mit großer Sensibilität alle diese irrationalen Ströme aufnimmt, bewußt neue Inhalte einsetzt, Vergleiche anstellt, um Botschaften zu vermitteln. Die Konsequenz dieser Tat ist es, Verantwortung zu übernehmen. Der Künstler tut es für sich, aber auch für jene, denen die Botschaft bestimmt ist, ob sie sie schon wahrnehmen und begreifen oder nicht. Solche Verantwortung macht ihn zum Propheten, sie verbindet die Vergangenheit mit der Zukunft. Sie beinhaltet auch das Bewußtsein der Grenzen des Wissens, der Tiefe und Undurchdringlichkeit des Geheimnisses, der unermeßlichen Größe Gottes. In diesem Sinne zitierte ich im Katalog zu Winklers 90. Geburtstag Albert Einstein: »Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestation tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unserer Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinne und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.«

Dies alles schließt Ironie, Witz und Spott nicht aus. Denn sie sind Metaphern, die uns Zusammenhänge deutlich zeigen. Träume ermöglichen neue metaphorische Verbindungen, in ihnen realisiert der Schöpfer Modelle einer anderen, besseren Wirklichkeit. Geträumte Realität ist Inspiration zum Handeln, in der Erinnerung bleibt sie als Mahnung. Der Sinn ihrer Botschaft ist Kommunikation, Tat, Veränderung. Hier möchte ich an die Worte von Karel Teige erinnern: »Der Surrealismus wirkt durch seine Ideologie und sein poetisches Schaffen auf den Menschen und verändert ohne politische Vermittlung das Leben vor allem dadurch, daß er die wesentlichen Kräfte und Werte des Menschen freisetzt und auf ethischer Ebene Mut zur Freiheit und zur Vielgestaltigkeit der Liebe, Mut in ihre Tiefe hinabzuschauen, verleiht, er weckt im Menschen den Sinn für die Geschenke der Zufälle des Lebens und den Zauber der Begegnungen, er führt ins Reich der Träume, lehrt ihn, die versäumte Wirklichkeit neu zu sehen, und erlaubt es ihm, sie im Sinne seiner Begierde für sich zu deuten.«
Das Wichtigste an Winklers Werk ist für mich das Imaginative, die Poesie. Sie ist ein befreiendes Element. Sie ist mit ästhetischen Kriterien feststellbar (eigentlich eine Modifizierung der antiken griechischen Kalokagathie). Gegen das Wort, das allmächtige, dogmatische, abstrakte Wort wird das Bild gesetzt, das allumfassende, offene, assoziative Bild, das konstruiert ist und doch Freiräume für Emotion, Ausdruck, Träume offen läßt. In unserer Welt der Begriffe, der Manipulationen, wird das Bild immer mehr verdrängt. Für die Befreiung des Menschen ist die Rehabilitierung des Bildes, die Macht der Poesie, unabdingbar. Dies lehrt mich Winklers Werk. Es befriedigt mich. Es gibt mir Mut.
Peter Spielmann war von 1972–94 Direktor des Museums Bochum, ist Autor und Herausgeber der Monographie Woldemar Winkler. Das malerische Werk